Zwischen Studium und Krieg

Aus Familienalbum
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Voriges Kapitel: Die Praxis im Krieg / Gefangenschaft


[Kapitel 5 - Zwischen Studium und Krieg]


Ich habe schon 1946 gemeint, ich würde meinen Enkeln aus den vergangenen Jahren mehr erzählen können als aus den ruhigen Zeiten. Als Bindeglied zwischen Studium und Krieg muß auch von ihnen die Rede sein.
Ich habe meine Medizinalassistenzzeit im Krankenhaus in Celle absolviert, Opa in der Kinderklinik in Kiel. 1935 erhielten wir die Approbation. Opa ging zu dem bekannten Chirurgen Prof. Beck nach Hannover, wo er sehr viel gelernt hat. Prof. Beck wollte ihn als Assistenten nach Düsseldorf mitnehmen. Opa hatte auch den großen Wunsch, Chirurg zu werden. Die Assistentengehälter waren damals so niedrig, daß wir nicht hätten heiraten können. Daß ich als Assistentin das Gehalt hätte verdoppeln können, das stand überhaupt nicht zur Debatte. Der Gedanke war völlig abwegig. Heiraten, ohne sofort auch eine Familie zu gründen, paßte nicht in unser Weltbild, auch in das von uns Frauen nicht. Es war auch anderes nicht üblich, was heute nicht vorstellbar ist. Wir Assistenten waren nicht sozialversichert, Überstunden wurden nicht bezahlt. Sonntags- und Nachtdienst unterlag keiner Regelung. In der Krankenkasse waren nur arme Leute. Wir wurden in den Krankenhäusern, wo wir arbeiteten, umsonst behandelt, auch stationär. Prof. Beck steckte Opa immer einen großen Schein zu, wenn er nach Celle fuhr, aber ein Rechtsanspruch bestand natürlich nicht. Als Prof. Beck Hannover verließ, räumte ich meine Assistenzstelle in Celle, ging für eine Zeit in die Kinderklinik und dann ins Gesundheitsamt. Mütterberatungsstunden waren wohl eine Tätigkeit, die eine große Wirkung auf Mütter und Kinder haben konnten für Ernährung, Erziehung und gesunde Lebensführung. Lange Zeit habe ich den Amtsarzt vertreten müssen, weil er schwer erkrankt war. In einem Jahr habe ich die allgemeine Pockenimpfung durchgeführt. Das war ein warmer Geldsegen, von dem ich meinen Mann neu einkleiden konnte.
Opa war einziger Assistent im Celler Krankenhaus für alle Abteilungen: Innere, Chirurgie, Haut, HNO, Augen. In unserer Wohnung bei meinen Eltern zu schlafen, war für ihn sinnlos. Er wurde jede Nacht rausgeholt. Zum Abendessen war er oftmals da und saß gerne mit meinen Eltern zusammen. Abends spät telephonierten wir lange zusammen. Er hatte immer Sonntagsdienst und rieb sich die Hände vor Vergnügen: "Ei, ei, wie viel lerne ich hier." Er hat erstmalig ein Labor eingerichtet und eine Schwester als Laborantin angelernt. Seine Chefs waren auf den Gedanken noch nicht gekommen. Er hat von Prof. Beck eine Becksche Mühle bekommen, die er dem Krankenhaus zur Verfügung stellte. Mit ihr konnten Bluttransfusionen direkt vom Spender zum Patienten durchgeführt werden.
Weil er die Niederlassung als Hausarzt in einem Dorf anstrebte, ging er für ein Vierteljahr an die Landesfrauenklinik - ohne Gehalt. Sein Chef hat ihn eine der seltenen Beckenendlagen entwickeln lassen. (Das sind Geburten, wo der Po zuerst kommt, anstatt des Kopfes.) Die übrigen Assistenten waren sehr ärgerlich über den Eindringling, aber der Chef wußte, daß dieser Volontär sich selbständig machen wollte. 1937 gab es keine freie Niederlassung. Die Arztstellen wurden zur Bewerbung ausgeschrieben. Wir haben mehrere Stellen angesehen. Scheeßel hat Opas Herz begeistert schon von Deepen her. Im Industriepott aufgewachsen, hat er sich immer einen Baum zu eigen gewünscht. Nun bot sich "Doktors Park" in Scheeßel als Wohnsitz an. Aber das Wichtigste war, daß außer Chirurg und Internist keine Fachärzte in erreichbarer Nähe waren. Er wollte möglichst viel selber machen, vor allem Geburtshilfe und Unfallchirurgie. Ich wäre lieber in Celle geblieben oder nach Rotenburg gegangen, wo Eilzüge hielten für Konzerte und Theater in Bremen. "Was soll ich in diesem Dorf?"
Die berufliche Erfüllung für meinen Mann ging vor. Ich war dann als Mutter, Arzthelferin, Hausfrau so beschäftigt, daß ich gar keine Zeit für ein eigenständiges Leben gehabt hätte. Die häusliche Geburtshilfe nahm einen ungeahnten Umfang an. Ich mußte immer mit, falls Narkose nötig war. Wurde ich nicht gebraucht, saß ich in der guten Stube und stopfte und nähte und flickte für meine Kinder. Neben unserem geburtshilflichen Koffer stand auch mein Stopfkorb griffbereit.
Ich sehe meinen Mann noch vor mir stehen in Kittel und steriler Schürze, die behandschuhten Hände ineinander gelegt. Er wartete auf den Augenblick, in dem die Zangengeburt nicht mehr zu vermeiden war. Schwester Sophie kontrollierte die kindlichen Herztöne und gab das Zeichen, wenn sie sich bedrohlich verschlechterten. Für mich ist dieses Bild verbunden mit einer Nacht in Fintel, wo plötzlich die Karfreitagsglocken im ersten Dämmern den Feiertag einläuteten.
Im Sommer 1939 fuhr Opa zu seinem Kieler Lehrer Prof. Schröder, der inzwischen nach Leipzig versetzt war. Vierzehn Tage lang hat er ihn ständig begleitet bei allen Visiten und Operationen und hat seinem Lehrer erzählen können von einem Jahr Hausarzt in Scheeßel. Prof. Schröder hat ihm Mut gemacht, er wäre am richtigen Platz. Der Amtsarzt sagte anerkennend, Euer Großvater ginge mit großem Erfolg an die Grenzen aller Möglichkeiten der häuslichen Geburtshilfe.

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