Nachruf auf Sophie Hegel

Aus Familienalbum
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Sigmund Hegel
Nachruf auf Sophie Hegel

Was bedeutet in der jetzigen großen Zeit, in der zu leben uns vergönnt ist, das Leben eines alten Fräuleins, wie das meiner Schwester Sophie? Und doch habe ich aus den überaus zahlreichen Briefen, die mir nach dem Heimgang meiner lieben Schwester zugegangen sind, den Eindruck gewonnen, daß ihr Leben, wenn es sich auch nur im kleinen Kreis abgespielt hat, doch für die große Anzahl von Neffen und Nichten und für ihre vielen Freundinnen eine besondere Bedeutung hatte und daß durch ihren Heimgang eine schmerzliche Lücke entstanden ist, die nicht auszufüllen ist, indem ein treues, liebevolles Herz allen fehlt, die ihr im Leben nahestanden. Es mag daher nicht allzu anspruchsvoll erscheinen, wenn ich mit den folgenden Zeilen einem wiederholt an mich herangebrachten Wunsche, ein Lebensbild meiner Schwester zu geben, nachkomme.
Meine Schwester Sophie wurde am 28. Juli 1861 als das fünfte Kind des Professors Karl Hegel in Erlangen geboren, unsere Kinder- und frühe Jugendzeit verlebten wir in ungetrübtem Kinderglück im eigenen Elternhaus mit großem Garten im Kreise von Freunden und Freundinnen, bis durch den allzufrüh erfolgten Tod der Mutter im Jahre 1877 das Familienleben einen gewaltsamen, schmerzlichen Riß bekam. Sophie war damals 16 Jahre alt. Tanzstunden, Einladungen, Bälle usw. standen bevor, und überall fehlte die Mama, und diese konnten auch die älteren Schwestern und der um fünf Jahre ältere Bruder nicht ersetzen. Sophie war mit ihrem vollen, blonden Haar, ihren frischen Farben und feinen Zügen ein auffallend hübsches Mädchen, dem es an Verehrern nicht fehlte. Besondere Freude verschaffte ihr die Musik, namentlich der Gesang, mit dem sie sich im „Akademischen Gesangverein" unter Leitung des Professors Herzog eifrig betätigte. Mit diesem verband sie noch lange Jahre eine treue Freundschaft und ein reger Briefwechsel. Sie war und blieb für ihn "mei liebs Hegele", später freilich das gnädige Fräulein. Eine der bittersten Enttäuschungen ihres Lebens war der ihr durch finanzielle Rücksichten auferlegte Verzicht auf eine Verlobung mit einem jungen, talentvollen, aber leider mittellosen Offizier. Sie hat lange Jahre sehr schwer daran getragen, vergessen hat sie nie, wenn sie auch im Laufe der Zeit überwinden lernte. Da inzwischen sämtliche Geschwister, bis auf Marie, das Elternhaus verlassen hatten, und. der infolgedessen stark verkleinerte Haushalt den beiden Schwestern keinen genügenden Wirkungskreis bot, ging Sophie zunächst nach München, um dort ihre Schwester Lommel in dem kinderreichen Haushalt und in der Erziehung der Kinder zu unterstützen. In dieser Tätigkeit konnte sie aber auf die Dauer keine rechte Befriedigung finden. Es folgte dann ein Aufenthalt bei der ältesten Schwester, Anna Klein, in Leipzig, der gleichzeitig Gelegenheit zur weiteren Ausbildung in Gesang bot. Doch all dies konnte ihrem Leben nicht den rechten Inhalt geben. Sie entschloß sich daher, einer Anregung von Frau Professor Kolde geb. Piper folgend, im Jahre 1890 nach England und zwar nach Malvern zu gehen, um dort in dem Institut der Frau Piper, einer Schwester von Frau Kolde, den jungen Mädchen, meist Engländerinnen, deutschen Unterricht zu erteilen, Für ein Mädchen von 29 Jahren, die noch nie weiter in der Welt herumgekommen war, zu der damaligen Zeit kein leichter Entschluß, zu dem sie sich auch nur durch verstandesmäßige, klare Überlegung unter Hintansetzung aller Gemütsregungen mit bewundernswerter Tapferkeit durchringen konnte. Vermutlich hat wohl auch die bittere Erfahrung ihr das weitere Leben in Erlangen verleidet. Der Aufenthalt in England dauerte 20 Jahre. Er bot Sophie reichlich Gelegenheit, englische Verhältnisse, Land und Leute in ihrem Privatleben kennenzulernen. Im ganzen waren ihr die englischen Zustände sehr sympathisch. Im besonderen fühlte sie sich in dem Kreis der Familie Piper, von der drei Töchter selbst als Lehrerinnen im Institut tätig waren, sehr wohl und hatte Gelegenheit, auch anderweitige interessante Bekanntschaften zu machen, so z.B. in Cambridge, wo sie im einer Professorenfamilie manche ihrer Ferien zubrachte. Sie lernte auch London kennen und machte mit der Familie Piper einen Trip nach Paris, wo sie als Deutsche die schwierige Aufgabe fertigbrachte, englisch-französisch und umgekehrt zu dolmetschen.


Das in äußerlich vollendeten Formen sich abspielende Leben in England machte auf Sophie einen sehr angenehmen und günstigen Eindruck, so daß sie in den Ferien mit lebhaften Sympathien für England nach Deutschland zurückkehrte, was sie freilich manchmal mit den Geschwistern, zumal mit den Brüdern in Konflikt brachte. Um so mehr muß man anerkennen, wie sie dabei bewahrte, was sie z.B. in der Zeit des Burenkrieges stark in Opposition zu ihrer Umgebung und in innere Vereinsamung trieb. Noch zu Beginn dieses Krieges betonte sie, wie unglücklich sie damals gewesen sei, während sie im Weltkrieg und auch jetzt sich ganz getragen wußte von der nationalen Begeisterung, die alle Herzen erfüllte.
Mit den Jahren fühlte Sophie sich ermüdet von dem angreifenden Internatsleben in England, die Arbeit an immer wieder neuen "girls" belastete sie, und sie fing an, sich von Malvern zu lösen. Da kam 1910 wie ein Wink des Himmels die Bitte aus Göttingen, ob Sophie bereit wäre, im Klein'schen Hause auszuhelfen, zunächst für ein Jahr, das die letzte der Töchter, Elisabeth, in einem College in U.S.A. zubringen wollte. Sophie sagte zu, und aus dieser Zusage erwuchs reicher Segen für beide Teile, so daß nach einem Jahr, als Elisabeth zurückkam, niemand mehr daran dachte, die schöne Verbindung zu lösen. Sophie fand in Göttingen einen reichen Wirkungskreis, der sie in jeder Richtung befriedigte. Die Universitätsstadt mit ihrem starken geistigen Leben und das Klein'sche Haus im besonderen boten ihr vielerlei Anregungen. Dabei entfaltete die Freiheit der Entschlüsse mit der Zeiteinteilung, die sie nach der allzu großen Gebundenheit in England als sehr wohltuend empfand, ihr ganzes Wesen trotz ihrer 50 Jahre auf neue, alle überraschende Weise.
Meiner Schwester Anna und Schwager Felix war sie eine liebe, bald unentbehrliche Hilfe, den Kindern, auch den durch Heirat nicht mehr im Elternhause anwesenden, wurde sie die mütterliche, treue Freundin. Wie schwierig war doch alles durch die Schwerhörigkeit meiner Schwester Anna, wie mußte sie dauernd zwischen ihr und der Außenwelt die Verbindung herstellen. So war ihre Gegenwart immer wohltuend und unersetzlich, zumal in späteren Jahren, als mein Schwager durch eine zunehmende Lähmung immer mehr behindert wurde. Während der schweren 3 Jahre seines Krankenlagers, von dem ihn 1925 der Tod erlöste, und in den anschließenden 2 Jahren, die meiner Schwester Anna noch vergönnt waren, lag die Pflege meiner Geschwister fast ausschließlich auf Sophie, wofür ihr die Klein'schen Kinder immer tiefe Dankbarkeit bewahrt haben.
An allem teilnehmend, stand sie über dem Kleinlichen, stellte sich tatkräftig in ihren Wirkungskreis hinein, Licht und Wärme um sich verbreitend.. Sie war an viel Entsagung gewöhnt und suchte in der selbstlosen Fürsorge für andere ihrem Leben einen Inhalt zu geben. So wuchs ihr Wirkungskreis schon sehr bald über das Haus meiner Geschwister hinaus. Durch eine Anregung von Herrn Pastor Saathoff - der ihr nun als treuer Freund die Grabrede hielt - kam sie zuerst in Berührung mit der kirchlichen und sozialen Arbeit in Göttingen, der sie dann bis ins hohe Alter hinein - mit Ausnahme der Krankheitsjahre meiner Geschwister, die sie ganz ans Klein'sche Haus fesselten - mit aller Hingabe unermüdlich ihre Kräfte widmete. In der Trinkerfürsorge, der Berufsberatung, der Familienfürsorge, der Vormundschaftsarbeit - überall hat sie sich mit ganzer Kraft eingesetzt. Ihre Mitarbeiter wußten, daß auf sie immer zu zählen war, ihre Schützlinge dankten ihr mit Liebe und Verehrung. In ihrer unaufdringlichen, stillen Art, der der Humor nicht fehlte, gewann sie Einfluß auch auf rohe Naturen. Einer ihrer schwierigsten "Fälle", der in jahrelanger Bemühung von seiner Sucht befreit wurde, sprach es so aus: Fräulein Hegel ist wie die Sonne.


Einen ausgedehnten Feldbriefwechsel führte Sophie während des Weltkrieges, und selbst in diesem Kriege noch sandte sie Päckchen und Karten an die inzwischen herangewachsenen Kinder ihrer einstigen Schützlinge. In den ärmsten Kreisen Göttingens hat Sophie viele treue Freunde, die heute aufrichtig um sie trauern.
Was Sophie zu dieser Arbeit befähigte, war ihre aufrichtige, völlig vorurteilsfreie soziale Gesinnung, gegründet auf ihr tiefes Christentum. Sie war eine schlicht gläubige, kirchlich fromme Natur, die ihre Frömmigkeit jedoch nicht auf der Zunge trug oder gar anderen aufdrängte. Sie hielt fest an ihrer klaren Glaubensüberzeugung durch all die wechselnden Einflüsse hindurch, die das Leben ihr brachte, und denen sie sich jedesmal weitgehend anpaßte .
Sie lebte gern, war für alle Freuden des Lebens empfänglich, ein lebensbejahender Mensch voll Frische und Unternehmungslust bis ins hohe Alter. Zu meinem Erstaunen bestieg sie doch noch mit 72 Jahren im Jahr 1933 das Nebelhorn, vom Probsthaus aus eine Stunde steilen Anstiegs. Ich war vorausgestiegen, weil ich die Partie für Sophie für viel zu anstrengend hielt, und war nun höchst erstaunt, als sie nach mir allein oben ankam. Schwierigkeiten konnten sie überhaupt nicht so leicht von einem Vorhaben abhalten. Mit großer Beharrlichkeit setzte sie durch, was sie sich einmal vorgenommen hatte. Voller Interesse für die mannigfaltigsten geistigen Anregungen ließ sie sich durch Unbequemlichkeiten nicht von der Teilnahme an Theater, Konzerten und Kinos abhalten. Noch in Salzuflen in diesem Frühjahr war sie von einem solch brennenden Eifer für die Wochenschauen erfüllt, daß sie trotz des lebensgefährlichen Gedränges sich den Zugang zu verschaffen wußte. Und das alles, wo sie doch durch ihre starke Kurzsichtigkeit so sehr behindert war!
Wie unternehmungslustig Sophie bis in die letzte Zeit war, kann man daraus ersehen, daß sie noch am letzten Weihnachten die Reise nach Harburg mit Unterbrechung in Celle wagte, bei der sibirischen Kälte und den schwierigen Reise Verhältnissen ein geradezu kühnes Unternehmen! Für ihre Lebensfreude spricht eine reizende Episode, von der Herman Lommel zu berichten weiß. Er schreibt : Zu dem vielen Unvergeßlichen gehört ein Augenblick bei ihrem letzten Besuch bei uns in Frankfurt. Sie war leiblich schon sehr gebrechlich, im Herzen aber jung, munter und frisch wie je. Sie erzählte von einem Aufenthalt mit Elisabeth und deren Freundin in Meran. Die beiden machten eine Wanderung und ließen die Tante in einem Wagen fahren. Die Fahrt sei so schön gewesen, daß sie in ihrem Herzen gesungen habe; "Das gibts nur einmal, das kommt nicht wieder", ein Lied, das im Film ein junges Wiener Madl bei einer Fahrt übers Land singt im harmlos leichtfertigen Spiel. Das alte Tantchen mit singendem Herzen und dem Lied einer jungen Schönen durchs schöne Land fahrend - übers Jahr davon noch von Glück strahlend - das war entzückend!
Auf unseren gemeinschaftlichen Reisen war Sophie eine stets zufriedene, anspruchslose Begleiterin, mit allem gern einverstanden und für alles Neue interessiert, für alles Schöne begeistert. Gesundheitlich zuverlässig, scheute sie auch vor größeren körperlichen Anstrengungen nicht zurück. Bei ihrer verträglichen Natur hat es niemals zwischen uns Differenzen gegeben. Wir waren zusammen in Friedrichroda, in Oberstdorf, zweimal in Mittenwald und zweimal in Salzuflen.
Auch mit meiner Nichte Elisabeth Staiger hat Sophie seit dem Tode meiner Schwester Anna 1927 fast alljährlich große, schöne Reisen unternommen, so z.B. nach der Isle of Wight, nach Berchtesgaden, mehrmals nach Meran und an den Bodensee. Amüsant war es, als sie bei dem letzten Aufenthalt in Salzuflen dem Arzt von vornherein kategorisch erklärte, sie sei im allgemeinen ganz gesund und im besonderen fehle ihr im Hals gar nichts, worauf denn der Arzt den Hals auch gar nicht untersuchte, und nur die üblichen Bäder verordnete. Im allgemeinen erschien uns aber Sophie in diesem Sommer in Salzuflen doch sehr viel hinfälliger als in früheren Jahren. Die Unsicherheit im Gehen und die Kurzsichtigkeit belästigten sie sehr. Glänzend war der Appetit; das Verzehrte schlug jedoch bei ihrer Natur nicht an, so daß sie mit großer Befriedigung feststellte, daß sie eine Zunahme von 200 Gramm (!) in vier Wochen erreicht habe. Beim Abschluß der Zeit wiederholte sie mir gegenüber mehrmals, es sei doch wohl fraglich, ob wir uns noch einmal wiedersehen würden, und nahm besonders zärtlich Abschied von mir. So sollte ihre Ahnung doch recht behalten. Mir werden diese gemeinsamen Reisen stets besonders liebe Erinnerungen bleiben.
Gefaßt und heiter, voll tiefen Gottvertrauens, sah sie jederzeit der Zukunft und auch dem Ende entgegen, soviel Lebensfreude sie auch noch hatte. In allen Briefen, die ich erhalten habe nach ihrem Tode, wird ihr fröhliches, sonniges Wesen und auch ihre schöne Stimme gerühmt, sowie ihre Treue gegen ihre Freundinnen, mit denen sie teilweise seit frühester Jugend unverbrüchlich verbunden war.
Treue Freundschaft hat sie auch durch ihre letzten Tage bis zum Ende begleitet. Am 3.August abends stand sie plaudernd mit den Damen ihres Hauses im Garten, als sie plötzlich - unter der Einwirkung eines leichten Schwindels, der sie schon seit Jahren öfters heimsuchte - umfiel, ehe sie jemand halten konnte. Sie war nicht besonders erschüttert (sie kannte diese Erscheinung), konnte sich aber nicht erheben. Man brachte sie auf einem Stuhl ins Haus und zu Bett wo sie unter Einwirkung einer Tablette sogar noch einigermaßen schlief. Der am Morgen geholte Hausarzt vermutete Schenkelhalsbruch; da es aber Sonntag war, konnte sie erst am folgenden Tag ins Krankenhaus Neu-Mariahilf eingeliefert werden, wo eine Röntgenaufnahme einen nicht komplizierten Bruch des Oberschenkels zeigte. Nach Einrenkung und Schienung im Streckverband (in Narkose) verschwanden die Schmerzen völlig. Sophie hatte guten Appetit, war heiter, diktierte Karten und empfing mit Freuden viele liebe Besuche. Niemand, am wenigsten aber sie selbst, dachte daran, daß es dem Ende entgegengehen könnte. Erst Mitte der Woche machte sich ein merkwürdiges Nachlassen der Kräfte, eine zunehmende Benommenheit bemerkbar, die schließlich stundenweise das Bewußtsein trübte. In den dazwischenliegenden besseren Stunden zeigte sich, daß ihr dies Versagen nicht bewußt war. Sie hat bis zuletzt an ihre völlige Genesung geglaubt. Ihre treue Freundin, Fräulein Bierhake, war ständig um sie, fütterte und pflegte sie mit aller Hingabe. Elisabeth Staiger, die auf ihren Wunsch täglich Nachricht erhielt, hörte erst am Samstag Beunruhigendes und am Sonntag den Bescheid des Arztes, es sei besser, zu kommen, das Gehirn arbeite nicht mehr recht, aber es habe gar keine Eile. Am Montag, dem 12. vormittags, waren die letzten klaren Stunden; Sophie war von Dankbarkeit und Freude erfüllt, aber unendlich müde. Gegen Mittag ist sie eingeschlafen. Elisabeth fand sie bei ihrer Ankunft um ½ 19 Uhr noch atmend, aber völlig ohne Bewußtsein. Zwei Stunden später - viel früher als die erfahrene Schwester erwartet hatte - stand das Herz wohl unter Einwirkung eines Schlages.
Wie sie gelebt hat, ohne sich oder andern je zur Last zu fallen, so still und leicht ist sie heimgegangen. Dankbarkeit, die Grundstimmung ihres vertrauenden Herzens, darf auch uns erfüllen im Gedanken an dieses vollendete Leben.

Dr. Sigmund Hegel
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