Felix Klein und Göttingen

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Arno Spangenberg


Felix Klein und Göttingen


(Festvortrag, gehalten am 25.04.1999 anläßlich der Feier des Felix-Klein-Gymnasiums zum 150. Geburtstag von F. Klein)

Als Felix Klein im April 1886 seine Berufung nach Göttingen annahm, war er als 37 jähriger schon ein allgemein anerkannter Mathematiker. Er hatte seinen ersten Lehrstuhl mit 23 Jahren an der Universität Erlangen erhalten, wechselte dann 3 Jahre später an die Technische Hochschule München und kam schließlich 1880 als Professor für Geometrie an die Universität Leipzig.
Seine mathematischen Forschungen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, hatten zunächst ihren Schwerpunkt in der Geometrie und ihren Beziehungen zur Algebra. Es ging ihm nicht um eine möglichst umfassende Aufarbeitung von Spezialgebieten, sondern er strebte eine organische Verknüpfung der Sachgebiete an. Sein Ziel war es, die mathematische Wissenschaft als ein zusammenhängendes Ganzes zu erfassen. Neben seinem sehr produktiven Wirken als Forscher hat sich Felix Klein stets intensiv um die Lehre gekümmert. Für die Organisation des Lehrbetriebes wandte er viel Zeit und Energie auf. In Leipzig hatte er ein sehr interessantes Forschungsgebiet gefunden, das er in reger Korrespondenz mit dem großen französischen Mathematiker Poincaré aber auch im Wettlauf mit ihm entwickelte [1]. Felix Klein fand wichtige Sätze dieses Gebietes, aber die Doppelbelastung durch intensive Forschung und die stets sorgfältig und engagiert ausgeführte Organisation und Lehre in der Fakultät hielt er nicht durch. Es kam zu einem gesundheitlichen Zusammenbruch und Felix Klein mußte den weiteren Ausbau der Theorie Poincaré überlassen.
In dieser Situation nahm er gern den Ruf nach Göttingen an. Er schreibt dazu in seinen Lebenserinnerungen [2] " Zu der Annahme dieses Rufes bewegte mich vor allem der Wunsch, von der Großstadt loszukommen, die ich nie geliebt hatte, und die Hoffnung, in der kleinen Gartenstadt eine befriedigende Existenz zu gewinnen.... Schließlich kam noch die Überlegung hinzu, daß eine Tätigkeit in Preußen von weit durchgreifender Wirkung für die mathematischen Unterrichtsverhältnisse sein mußte als das Arbeiten an einer noch so bedeutenden außerpreußischen Universität. Diese Erwartungen haben mich nicht getäuscht, so daß ich gern in Göttingen geblieben bin."
Klein hatte die Stadt schon 1869 kennengelernt, als er nach der Promotion seine Studien bei Clebsch fortsetzte. Dieser Göttinger Mathematikprofessor arbeitete an ähnlichen Problemen wie Plücker, der verstorbene Doktorvater von Klein in Bonn. Es schlossen sich Studienaufenthalte in Berlin und Paris an. 1871 kehrte Klein nach seinem Einsatz im deutsch-französischem Krieg nach Göttingen zurück und habilitierte sich bei Clebsch. Kleins Urteil über Göttingen ist eventuell auch durch diese Aufenthalte geprägt, die für ihn verbunden waren mit der Zusammenarbeit in einem Kreis junger Mathematiker, aus dem bedeutende Professoren hervorgingen (Lindemann, Max Noether, Rieke). Mit diesen gründete Klein den mathematischen Verein zu Göttingen [3], der lange Zeit eine wichtige Begegnungsstätte für die Mathematiker war.
Kleins Berufung nach Göttingen wurde von Friedrich Althoff betrieben, einem einflußreichen Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium, das für die Hochschulen verantwortlich war. Er wollte die Universität entsprechend ihrer großen mathematischen Tradition, die besonders von Gauß begründet worden war, erhalten und ausbauen. Dazu war Klein seine erste Wahl. In einer Eingabe an den Kaiser zur Begründung der Berufung wurde dargelegt, daß aus den Seminaren des damals erst 36 jährigen Professors schon 4 Ordinarien, 3 Extraordinarien, 6 Privatdozenten und 15 Lehrer an ausländischen Hochschulen hervorgegangen waren [4]. Althoff suchte Klein in Leipzig auf, um ihn für Göttingen zu gewinnen. Seit dieser Zeit arbeitete Klein eng und freundschaftlich mit Althoff zusammen und konnte mit seiner Unterstützung viele Pläne und Ideen zum Ausbau der Mathematik und Naturwissenschaften in Göttingen verwirklichen. Klein schreibt über Althoff [5] " Vor allem ist ihm Göttingen zu Dank verpflichtet, da die mit 1892 einsetzende große Entwicklung der mathematischen und physikalischen Einrichtungen in erster Linie von ihm herbeigeführt worden ist."
In Göttingen bezog Klein mit seiner Familie das neu erbaute Haus Wilhelm-Weber- Str. 3. Er schätzte es, direkt neben dem Botanischen Garten zu wohnen, in dem er bis ins hohe Alter gern spazieren ging. Seine Frau Anna war eine Großtochter des berühmten Philosophen Friedrich Hegel, die er in Erlangen geheiratet hat. Sie hatten einen Sohn und drei Töchter, die jüngste, Elisabeth, wurde 1888 in Göttingen geboren. Sie teilte mit dem Vater die Liebe zur Mathematik und studierte Mathematik und Physik. Sie bearbeitete für die Veröffentlichung die mathematikhistorischen Vorlesungen "Die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert", die ihr Vater während des 1. Weltkrieges für eine ausgewählte Hörerschaft aus Krankheitsgründen nur noch in seinem Hause halten konnte [6]. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der sich in seinen Arbeitsraum zurückzog, wenn bei den vielen gesellschaftlichen Anlässen in seinem Hause Musik dargeboten wurde, liebte sie Musik und komplettierte ihre Ausbildung nach dem Examen durch ein Musikstudium in Leipzig. Später wurde sie Schulleiterin am Goethe-Gymnasium in Hildesheim.
Wie bei allen Lehrstühlen, die er angetreten hat, kümmerte sich Felix Klein auch in Göttingen zunächst um die Verbesserung der Lehre. Für die Studenten wurde ein Lesezimmer eingerichtet, in dem sie die wichtigsten Bücher vorfanden. Zu Veranschaulichungen, denen Klein eine große Bedeutung beimaß, wurde die von seinem Kollegen H. A. Schwarz schon eingerichtete umfangreiche Sammlung mathematischer Modelle und Instrumente weiter ausgebaut und gepflegt. Davon sind noch heute viele Stücke in den Vitrinen des mathematischen Institutes zu finden. Weiterhin erreichte Klein, daß die Professoren der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät einen Lehrplan aufstellten und in einer halbjährlichen Konferenz sicherstellten, daß die Vorlesungen in den jeweiligen Semestern zu diesem Plan paßten.
Mit intensiver Unterstützung durch Althoff konnte Klein die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät in Göttingen erheblich erweitern und die Lehrstühle mit angesehenen Professoren besetzen. Es gelang ihm, David Hilbert nach Göttingen zu holen, der Klein durch seine axiomatischen und grundlagentheoretischen Ansätze auf hervorragende Weise ergänzte. Später kam noch Hermann Minkowski dazu, ein enger Freund Hilberts. Einen besonderen Schwerpunkt setzte Klein in der Förderung von Anwendungen der Mathematik. Sie waren für ihn nicht nur unerläßlich, weil durch die fortschreitende Industrialisierung anwendungsbezogene Mathematik gebraucht wurde, sondern für ihn war die angewandte Mathematik ein wichtiger Bestandteil der Wissenschaft. Deshalb hielt er sie auch für erforderlich bei der Ausbildung von Lehrern, um ihnen ein angemessenes Bild der Mathematik zu vermitteln. Zu der damaligen Zeit war der Lehrerberuf das Berufsziel fast aller Mathematikstudenten. 1895 wurde ein Seminar für Versicherungsmathematik eingerichtet und mit dem bekannten Nationalökonomen Professor Lexis besetzt. 1904 konnte Professor Carl Runge von der Technischen Hochschule Hannover auf einen Lehrstuhl für angewandte Mathematik berufen werden. Ebenfalls aus Hannover kam im selben Jahr der Strömungsforscher Professor Ludwig Prandtl, um den sich Klein besonders intensiv bemüht hatte. Darüber hinaus förderte er Lehrveranstaltungen zur Darstellenden Geometrie, Geodäsie und Statistik. Schon 1894 setzte sich Klein für die Berufung von Walther Nernst nach Göttingen ein, der die physikalische Chemie an der Universität einführte. Er erhielt 1920 den Nobelpreis für Chemie. Die Physik war für Klein wie auch für Hilbert und Minkowski ein besonders wichtiges und interessantes Anwendungsgebiet der Mathematik. Alle drei haben bedeutende Beiträge zur physikalischen Forschung geliefert. Diese Konstellation trug sicher dazu bei, daß große Physiker an die Universität kamen, wie etwa die späteren Nobelpreisträger Max Born, James Franck und Peter Debye. Die große Anzahl ausgewiesener Mathematiker und Physiker zog Besucher und Studenten aus aller Welt nach Göttingen und bewirkte, daß auch jeweils als Nachfolger wieder bekannte Forscher gewonnen werden konnten. So wurde Göttingen in den 20-er Jahren zu dem weltweit beachteten Zentrum für Mathematik und Physik. Von dem Ruf und dem Bekanntheitsgrad den Stadt und Universität damals erlangten, profitieren sie noch heute. Diese erfreuliche Entwicklung wurde 1933 abrupt beendet. Fast alle bedeutenden Mitglieder der Fakultät waren Juden oder hatten enge Beziehungen zu Juden. Sie wurden deshalb durch die Nationalsozialisten von der Universität vertrieben. Hilbert soll dem seinerzeitigen Reichsminister für Wissenschaften Bernhard Rust auf die Frage wie es an seiner Fakultät gehe, erwidert haben, was für eine Fakultät er meine, eine mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät existiere in Göttingen nicht mehr, denn Rust habe sie zerstört [7].
Felix Kleins Ambitionen bezogen sich aber nicht nur auf die Einrichtung neuer Lehrstühle an der Göttinger Universität. Seine Vorstellungen zur Integration von reiner Wissenschaft und ihren Anwendungen gingen weiter. Für ihn war die Ecole Polytechnique, die er in Paris kennengelernt hatte, ein Vorbild. Als Professor für Mathematik an der Münchner Technischen Hochschule konnte er Erfahrungen mit der Technik und ihren Vertretern in Deutschland sammeln. Auf diesen Grundlagen entwickelte er 1888 sein "Göttinger Programm", das die Vereinigung von Technischen Hochschulen und Universitäten in Preußen vorsah [8]. Dieser Plan wurde von Vertretern der Universitäten und der Technischen Hochschulen einmütig und vehement abgelehnt und fand auch im Ministerium keine Unterstützung. Die einen befürchteten, daß ihre reine wissenschaftliche Forschung und Lehre durch Fragen nach der Nützlichkeit verwässert würde, die anderen befürchteten, als Anhängsel an die Universität ihre wissenschaftliche Anerkennung wieder zu verlieren, die sie sich gerade erworben hatten. Trotz dieser Widerstände gab Felix Klein seine Pläne nicht auf. Bei einer Amerikareise, die Klein im Auftrage Althoffs zum Mathematikerkongreß in Chicago anläßlich der Weltausstellung 1893 unternahm, beobachtete er, wie dort mit privatem Geld erhebliche Teile der Forschung an den Hochschulen finanziert wurden. Daraufhin modifizierte er sein Programm, indem er sich auf die Angliederung von technischen Instituten an die Universitäten einsetzte. Dadurch sollten die zukünftigen Lehrer im Studium mit der Technik vertraut werden und so die Anforderungen der Zukunft kennen lernen und ein für Felix Klein adäquates Bild der Wissenschaft entwickeln. Außerdem sollten Wissenschaftler der technischen Hochschulen auch an Universitäten aus- und weitergebildet werden können. Insgesamt sollte aus dem beziehungslosen Nebeneinander von Universitäten und technischen Hochschulen ein organisches Ganzes werden. Den weiter anhaltenden Widerstand der Technischen Hochschulen gegen diesen Plan konnte Klein 1895 auf einer Versammlung der Ingenieure im sogenannten "Aachener Frieden" überwinden. Dabei mußte er seine Idee der Öffnung der Universitäten für die wissenschaftliche Ausbildung von Dozenten der Technischen Hochschulen aufgeben. Es blieb die Zustimmung der Ingenieure zur Errichtung von technischen Einrichtungen an Universitäten für die Ausbildung der Mathematiker, Physiker und Lehramtskandidaten [9].
Damit war der Weg frei, in Göttingen ein technisches Laboratorium zu planen. Klein nutzte seine Beziehungen zu dem Kältetechniker Linde, die er in seiner Zeit an der Technischen Hochschule in München geknüpft hatte und konnte mit seiner Hilfe bedeutende Industrielle gewinnen, an der Spitze Henry Th. Böttinger, einen Schwiegersohn Bayers und den seinerzeitigen Direktor der Farbwerke Elberfeld (vormals Bayer und Co.). Innerhalb kurzer Zeit kamen 20 000 Mark als Spenden aus der Industrie zusammen, für die im Michaelishaus am Leinekanal 1897 eine technische Abteilung des physikalischen Instituts gegründet wurde. Hier gab es u.a. einen Gasmotor, eine Dampfmaschine und einen Dieselmotor, so daß die Studenten an "lebenden Maschinen" lernen konnten, wie es Klein ausdrückte. Die Einrichtung diente auch zur Erzeugung der Elektrizität für die Beleuchtung der gegenüberliegenden Universitätsbibliothek. Sie hatte Pilotwirkung für die allgemeine Elektrizitätsversorgung der Stadt, die zu der Zeit intensiv und kontrovers diskutiert wurde und erst 4 Jahre später zustande kam. Natürlich konnte auch dieses Projekt nur mit Unterstützung durch Althoff verwirklicht werden, dessen anfängliche Skepsis Klein zu überwinden vermochte. Dabei kam ihm ein ehrenvoller Ruf an die Universität Newhaven in Amerika zugute, den er auf Wunsch Althoffs ablehnte. Dadurch sicherte er sich das besondere Wohlwollen seines ministeriellen Förderers. Die Zusammenarbeit mit der Industrie konnte Klein 1898 durch die Gründung der "Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik" [10] institutionalisieren. Hier fanden sich bedeutende Industrievertreter zusammen, die für 5000 Mark Aufnahmegebühr und einen Jahresbeitrag von 500 Mark Mitglieder wurden. Göttinger Professoren konnten eine außerordentliche Mitgliedschaft erwerben. Vorsitzender wurde Böttinger und sein Stellvertreter war Klein. Die Liste der bedeutenden Industriefirmen, die in der Vereinigung vertreten waren, reichte von Krupp über Siemens bis Krauss (Heute bekannt als Krauss-Maffey). Zu dieser Gründung bemerkte Klein [11] " Den amerikanischen Anregungen folgend, war es von vornherein meine Absicht, industrielle Kreise für diese Gedankengänge im allgemeinen und für unser Göttinger Institut im besonderen zu interessieren. Obwohl mich hierbei der Gedanke reizte, in unserem überall auf Staatshilfe wartenden Volke einmal aus privater Initiative Ideen zur Verwirklichung zu bringen, lag mir dennoch bedeutend mehr an der befruchtenden gegenseitigen Einwirkung, welche ich mir von der Zusammenarbeit des stillen Gelehrten und des im praktischen Leben stehenden schöpferisch tätigen Großindustriellen versprach." Es konnten durch diese Vereinigung ein elektrotechnisches Laboratorium und ein Laboratorium für technische Physik gegründet werden. Aus diesen Einrichtungen ist später das dritte physikalische Institut entstanden. Die angewandte Mathematik bekam eine Forschungsstätte, die heute noch existiert an der Ecke Lotzestraße- Böttingerstraße, dem ehemaligen Gebäude des heutigen Felix-Klein-Gymnasiums. Schließlich kamen dann die Forschungsstätten für Aerodynamik und Hydrodynamik hinzu, die zunächst in der Hildebrandstraße errichtet wurden und später auf das jetzige Gelände der DLR und des Max-Planck-Institut für Strömungsforschung an der Bunsenstraße umgesiedelt worden sind [12]. Für die Luftfahrt war Göttingen dank Prandtl, für den diese Laboratorien gebaut wurden, die zentrale Forschungsstätte in Deutschland. Allein dieser Teil des Kleinschen Schaffens hat soviel positive, bis heute fortwirkende, Impulse auf wissenschaftlichem und auch wirtschaftlichem Gebiete für Göttingen gebracht, daß Stadt und Universität ihm zu großem Dank verpflichtet sind.
Mit diesen wissenschaftsorganisatorischen Aktivitäten erschöpft sich aber noch nicht die Göttinger Tätigkeit von Felix Klein. Die Vermittlung der Mathematik auf allen Ebenen lag ihm seit je am Herzen. Schon in seiner Erlanger Antrittsrede 1872 forderte er [13]: "Wir verlangen mehr Interesse für die Mathematik, mehr Leben in ihrem Unterricht, mehr Geist in ihrer Behandlung! Es ist ein nur zu verbreitetes Urteil, welches man in Schülerkreisen nicht selten hören kann, daß es auf Mathematik doch nicht ankomme. Das schlimmste ist, daß dieses Urteil häufig kein unrichtiges ist, indem die Mathematik, welche vorgetragen wird, wirklich nicht viel bildende Momente enthält. Statt den eigentlichen Sinn mathematischer Operationen zu entwickeln, statt in der Geometrie das lebendige Anschauungsvermögen auszubilden, wird die Zeit zur Erlernung eines geistlosen Formalismus oder zur Übung in prinziplosen Kunststücken verwandt. Da lernt man mit Virtuosität lange Buchstabenausdrücke zu reduzieren, bei denen niemand sich etwas vorstellt.... Soll aber der so gebildete Schüler seine Gedanken selbständig entwickeln, ... so fehlt es ihm an jeder Spur von eigener Initiative". Eine Aussage, die auch heute noch ihre Berechtigung hat, und die bei der Diskussion über die Ergebnisse der TIMMS- Studie in ähnlicher Form oft zu hören ist.
So wie Klein in der Wissenschaft immer ein zusammenhängendes Ganzes sah und nach einer organischen Verknüpfung der Einzelgebiete suchte, war für ihn auch die Didaktik der Mathematik als Einheit zu sehen und konnte sich für ihn als Universitätslehrer nicht nur auf die höhere Mathematik beziehen. Er schreibt in seinen Lebenserinnerungen [14] "Schließlich war das gesamte Gebiet mathematischen Lernens von den bescheidenen Anfängen in der Volksschule bis zur höchsten wissenschaftlichen Spezialforschung als ein organisches Ganzes zu erfassen."
In seiner Göttinger Zeit hat Felix Klein sich ganz intensiv um die Verbesserung der schulischen Bildung bemüht. Zunächst kämpfte er für die Anerkennung von Mathematik und Naturwissenschaften als gleichberechtigte Bildungsinhalte neben den alten Sprachen, die am Ende des vorigen Jahrhunderts als alleinige Vermittler von formaler Bildung im Sinne des Neuhumanismus angesehen wurden und deshalb das Monopol für die Bildung einer Persönlichkeit hatten. Alle anderen Fächer, darunter auch die Mathematik, waren an den Gymnasien stark zurückgedrängt. Insbesondere inhaltliche Aspekte und Anwendungen der Mathematik wurden nur als Beiträge zu einer Fachausbildung angesehen, die nichts für eine Allgemeinbildung leisteten. Gegen diese Auffassung kämpfte Klein vehement und mit großem Geschick. Er zeigte immer wieder auf, daß auch die Mathematik und die Naturwissenschaften wichtige Bildungsinhalte transportieren. Dem Konzept der rein formalen Bildung stellte er sein Konzept der spezifischen Allgemeinbildung gegenüber, das nicht von vornherein Bildungsinhalte nur deshalb ausschloß, weil sie auch für das praktische Leben nützlich waren [15]. Dabei versuchte er, Verbündete zu gewinnen und engagierte sich im Verein Deutscher Naturforscher und Ärzte und im Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts. Es war nicht zuletzt Kleins Verdienst, daß auf der preußischen Schulkonferenz 1900 die Gleichberechtigung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung mit der altsprachlichen Bildung anerkannt wurde. Dadurch konnte auch das heutige Felix-Klein-Gymnasium, das zu der Zeit "Kaiser-Wilhelm II-Realschule" hieß, zu einer Oberrealschule werden und 1906 zum ersten Mal Abiturprüfungen durchführen.
Neben diesen politisch-organisatorischen Aktivitäten entwickelte Klein Programme und Theorien zur Verbesserung des mathematischen Unterrichts. Dabei sind in seinen Schriften viele auch heute noch sehr aktuelle Beiträge zu finden. Er hatte erkannt, daß nicht die Fachsystematik Richtschnur für den Unterricht sein durfte, sondern daß lernpsychologische Überlegungen bei der erfolgreichen Vermittlung von Mathematik auf allen Stufen eine wichtige Rolle spielten. Seine Theorie des genetischen Lernens nahm die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft als Leitlinie für die Abfolge und Aufbereitung des Lernstoffs. Anschaulichkeit und Erfahrungen der Schüler sollten dabei ernst genommen und zeitgemäße Anwendungen einbezogen werden. Der Schüler sollte erfahren, wie Mathematik entsteht und nicht nur das Fertigprodukt kennenlernen. Diese Überlegungen zur Didaktik sind auch heute sehr aktuell und wir arbeiten noch immer an ihrer Umsetzung. Klein fordert für den Mathematikunterricht [16]: " Er sollte, an die natürliche Veranlagung der Jugend anknüpfend, sie langsam denselben Weg zu höheren Dingen und schließlich auch zu abstrakten Formulierungen führen, auf den sich die ganze Menschheit aus ihrem naiven Urzustand zu höherer Erkenntnis emporgeschwungen hat".
Er entwickelte auch Konzepte für den Unterrichtsstoff. So ist sein Einsatz für die Einbeziehung der Differential- und Integralrechnung in den Unterricht der Oberstufe der höheren Schulen zu erwähnen, für den er sich gegen umfangreiche Widerstände aus Schule und Universität einsetzte. Felix Klein arbeitete dabei mit aufgeschlossenen Lehrern am Göttinger Gymnasium, heute Max-Planck-Gymnasium, zusammen. Es waren Götting, Behrendsen und Schimmack, die gemeinsam mit Klein Konzepte entwarfen und sie im Unterricht erprobten.
Ab 1892 veranstaltete Klein jeweils zu Ostern an der Göttinger Universität Ferienkurse für Lehrer. An diesen intensiven Fortbildungskursen, die die Lehrer in ihren Ferien besuchten, beteiligten sich auch andere Professoren der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät. Felix Klein fand hier die Gelegenheit, seinen Ideen eine breitere Schulöffentlichkeit zu verschaffen, zumal er teilweise die Vorträge dieser Kurse auch veröffentlichte. Aber der große Organisator begnügte sich nicht mit dieser Einwirkung, sondern er versuchte auch Gremien zu schaffen, über die er seine Ziele noch effektiver verfolgen konnte. So erreichte er, daß der Deutsche Verein der Naturforscher und Ärzte 1904 eine Unterrichtskommission gründete, deren Arbeit er wesentlich beeinflussen konnte. Schon ein Jahr später wurden die Vorschläge dieser Kommission als "Meraner Lehrplan" vom Verein der Naturforscher verabschiedet. Hier konnte Klein seine Ideen zur Einführung der Differential- und Integralrechnung an den Höheren Schulen, die er als krönenden Abschluß der Schulmathematik ansah, teilweise durchsetzen. Die Übernahme wesentlicher Teile dieser Vorschläge in offizielle Lehrpläne erfolgte aber erst 1925 durch die Richardschen Reformen.
Die Unterrichtskommission wurde bald auf eine breitere Basis gestellt, indem sie sich aus der alleinigen Trägerschaft durch den Verein der Naturforscher und Ärzte löste. Sie nannte sich nun "Deutscher Ausschuß für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht" (DAMNU) und beschäftigte sich mit Fragen dieses Unterrichts auf allen Schulstufen und allen Schulformen. 1908 wurde in Rom die "Internationale mathematische Unterrichtskommission" (IMUK) gegründet, deren Vorsitz Klein übernahm. Diese Kommission hatte die Aufgabe, eine Bestandsaufnahme des Mathematikunterrichts aller wichtigen Länder vorzunehmen. Dank des überragenden Organisationstalentes von Klein ist diese Aufgabe bis 1920 im wesentlichen erledigt worden. Über die deutschen Bände dieser Dokumentation schreibt der berühmte Göttinger Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger: " Die ideale Aufgabe wäre es, einen Wissenszweig von der Universität bis zu den mittleren und niederen Lehranstalten als pädagogische Einheit zu behandeln. Nur die Mathematik darf sich, dank der genialen Organisation von Felix Klein, des hohen Vorzugs rühmen, eine solche Darstellung in Form und Beschreibung und Forderung zu besitzen." (Begabung und Studium, 1917) [17].
Die beiden Institutionen, DAMNU und IMUK waren die äußere Klammer für die Zusammenarbeit von Felix Klein mit Walter Lietzmann. Diesen hatte Felix Klein 1908 als eine Art ehrenamtlichen Sekretär für die Arbeit der IMUK gewonnen. Lietzmann hat auch bald die Geschäftsführung des DAMNU zusätzlich übernommen. Der Zusatz "...aber sagen Sie ihrem Fräulein Braut, daß Sie auch noch andere Verpflichtungen haben." mit dem Klein seinen Glückwunsch zu Lietzmanns Verlobung versah [18], zeigt welchen Einsatz er von ihm erwartete.
Dr. Walter Lietzmann wurde 1919 Direktor der Göttinger Kaiser-Wilhelm II.- Realschule -heute Felix-Klein-Gymnasium - die er bis November 1946 leitete. Er gab der Schule einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkt im Sinne Kleins. An diese Tradition knüpft das Felix-Klein-Gymnasium heute wieder an, indem es als erste Schule in Niedersachsen einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig eingerichtet hat - übrigens auch wie bei Felix Klein in enger Kooperation mit dem Kultusministerium. Lietzmann wurde für viele Jahre zu der mathematikdidaktischen Autorität in Deutschland. Sein Lehrbuch "Methodik des mathematischen Unterrichts" ist für Generationen von Mathematiklehrern Pflichtlektüre gewesen. Auch heute existiert eine Fortsetzung des Werkes unter dem neuen Autor Horst Jahner.
Über die erwähnten Tätigkeiten hinaus hat Felix Klein in seiner Göttinger Zeit eine ganze Reihe von Büchern veröffentlicht, die von der Didaktik auf allen Stufen bis zu wissenschaftlichen Abhandlungen aus verschiedenen Gebieten der Mathematik und Physik reichten. Er korrespondierte mit vielen Kollegen z.B. mit Einstein, zu dessen Relativitätstheorie er wichtige Beiträge zur Geometrie der dabei entstehenden Räume liefern konnte. Von Althoff beauftragt, förderte er gegen viele Widerstände das Frauenstudium der Mathematik, bei ihm wurde die Engländerin Grace Chisholm als erste Mathematikerin in Preußen 1895 promoviert. Klein war von 1908 bis 1918 Abgeordneter des Preußischen Herrenhauses, der ersten Kammer des Preußischen Landtages, in dem er die Universität Göttingen vertrat. Er setzte sich auch dort für die Bildung einer Unterrichtskommission ein und übernahm den zweiten Vorsitz. In dieser Position mußte er sich mit der gesamten Palette der Fächer und Schularten befassen. Die Mitherausgabe einer Enzyklopädie der Mathematik forderte ein großes Engagement. Klein kümmerte sich um kompetente Autoren zu allen Teilen und sorgte dafür, daß auch die Anwendungsgebiete gut vertreten waren. Alle diese Tätigkeiten liefen neben einer umfangreichen Lehrtätigkeit einher. Wenn man diesen Arbeitsumfang sieht, fragt man sich, wie ein Mann das bewältigen konnte, zumal ein Mann, dessen Gesundheit ihm immer wieder Probleme bereitete, die mehrere längerfristige Kuraufenthalte erforderten. Klein hatte einen sehr sorgfältig gepflegten Terminkalender, den er penibel einhielt. Seine preußische Disziplin konnte manchmal auch überheblich wirken und Studenten abschrecken. Er hatte deshalb den Beinamen Felix Augustus (der Erhabene). Selbst seine Freizeittätigkeiten waren in die Arbeit eingebunden. Die donnerstäglichen Spaziergänge zum Kehr [19] etwa fanden mit den übrigen Ordinarien der Mathematik statt und dienten natürlich dem Fachgespräch. Eine wichtige Eigenschaft Kleins war es, daß er ein Meister im Delegieren von Tätigkeiten war. Dabei fand er immer den richtigen Partner, den er dann auch durch seine intensive Überzeugungsarbeit für die vorgesehenen Aufgaben gewinnen konnte. Von seinen Mitarbeitern verlangte er stets engagierten Einsatz für die Sache, er bezog sie jedoch auch in seine Forschungs- bzw. Organisationstätigkeiten ein und diskutierte und entwickelte mit ihnen zusammen in vielen Gesprächen Lösungen. So wie er anerkennend schreibt, daß er auf der Schule arbeiten und nochmals arbeiten gelernt hat [20], erwartete er diese Fähigkeit auch von anderen. Wenn er Vorlesungen autographiert herausgab, das heißt als handschriftlichen Text gedruckt, so mußten die Studenten oder Assistenten das Manuskript zur Vorlesung, die er sonnabends von 10 -12 Uhr gehalten hatte, am Montag vormittag bei ihm vorlegen. [21]
Göttingen hat den Vorzug gehabt mit Felix Klein einen Wissenschaftler und Organisator zu bekommen, der seine wesentlichen Forschungsergebnisse bereits erzielt und dadurch international großes Ansehen gewonnen hatte. So konnte er sich in der Göttinger Zeit der Vollendung seiner vielen Ideen zur Förderung der Mathematik auf allen Gebieten widmen. In Verbindung mit seinem einflußreichen Freund Althoff und mit seiner Fähigkeit, die entscheidenden Leute von seinen Ideen zu überzeugen, hat er eine enorme Weiterentwicklung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät zu einem Weltzentrum in den zwanziger und den beginnenden dreißiger Jahren erreicht. Dadurch wurde auch die Entwicklung von Universität und Stadt nach 1945 positiv beeinflußt. Bis heute ist der Name Göttingen mit den mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfolgen dieser Zeit verbunden. Die Gründung der physikalischen Laboratorien haben die Stadt um wichtige Forschungsstätten bereichert, die nicht nur ihren Ruf stärkten, sondern auch einen erheblichen Beitrag zur heimischen Wirtschaft leisteten. Das Felix-Klein-Gymnasium kann von seinem Namensgeber noch immer viel lernen, indem es sich bemüht, seine noch heute modernen Ideen zur Vermittlung von Mathematik und Naturwissenschaften in angemessener und zeitgemäßer Weise umzusetzen. Literatur

  1. Es handelte sich dabei um die Theorie der automorphen Funktionen
  2. F. Klein, Göttinger Professoren. Lebensbilder aus eigener Hand. Mitteilungen des UniversitätsbundesGöttingen?, # Jg., Heft 1, 1923, S. 23
  3. W. Lorey, Felix Kleins Persönlichkeit und Bedeutung für den mathematischen Unterricht, Sitzungsberichte der Berliner mathematischen Gesellschaft, Bd. XXII, 1926, S. 55
  4. W. Lorey, (wie Anmerkung 3), S. 59
  5. F. Klein Lebensbilder aus eigener Hand. a.a.o, S. 25
  6. A. Sommerfeld, Zum 100. Geburtstag von Felix Klein, Die Naturwissenschaften, 36. Jahrgang, H. 10, 1949, S. 291
  7. D. Nachmansohn, R. Schmidt, Die große Ära der Wissenschaft in Deutschland 1900-1933, 1988, S. 55
  8. F. Klein Lebensbilder aus eigener Hand. a.a.o , S. 25
  9. L. Prandtl, Klein und die angewandten Wissenschaften, Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft, Bd. XXV, 1926, S. 84
  10. Der Name wurde im Jahr 1900 zu "Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik" ergänzt
  11. F. Klein Lebensbilder aus eigener Hand. a.a.o , S.27
  12. J. C. Rotta, Die Aerodynamische Versuchsanstalt in Göttingen, ein Werk Ludwig Prandtls, 1990
  13. Zitiert nach W. Lorey: Der Deutsche Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts e.V., 1891-1938, ein Rückblick, 1938, S. 20
  14. F. Klein Lebensbilder aus eigener Hand. a.a.o , S. 24
  15. F. Klein, R. schimmack, Der mathematische Unterricht an den höheren Schulen, 1907
  16. F. Klein, Elementarmathematik vom höheren Standpunkt Teil 1, 1908, S. 588/589
  17. Zitiert nach W. Lorey (wie Anmerkung 3), S. 65
  18. W. Lietzmann, Aus meinen Lebenserinnerungen, 1960, S. 63
  19. Ausflugslokal im Göttinger Wald
  20. F. Klein Lebensbilder aus eigener Hand. a.a.o , S. 13
  21. W. Lorey, (wie Anm. 13), S. 21


© Arno Spangenberg 1999