Erinnerungen von Elisabeth Hillebrand

Aus Familienalbum
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Elisabeth Hillebrand


Erinnerungen an Eberhard Hagemann


Meine erste Erinnerung an meinen Vater ist eine liebevolle. Er trug mich durch den Garten. Es war warm, und es blühte überall. Durch Mutter habe ich erfahren, daß ich etwa drei Jahre gewesen sein muß. Ich war beim Klettern aus dem Bett rittlings auf das Bettgitter gefallen und hatte mich so verletzt, daß ich alle Bächlein zurückhielt. Dr. Weber glaubte, durch Wasserdampf die Bächlein locken zu können. Ich schrie mörderlich, Vater drückte mich - wie angeordnet - auf das Töpfchen mit dem viel zu heißen Dampf, und ich hatte eine handfeste, ausgedehnte Verbrennung dazu. Da mußte Dr. Weber trotz seiner Abneigung katheterisieren. Ich weiß auch, daß ich unter der großen Kastanie auf dem Bauch lag, die abheilenden Wunden juckten, und Vater oder Mutter oder Fräulein Henke klopften sanft auf mein Dreierbrot, um mich am Kratzen zu hindern. Ich habe nur das Liebevolle behalten, weiß nichts von Verletzung, heißem Dampf und Verbrennung.
Daß Vater mich mit: Ach nur ein Mädchen am 20.II.1909 begrüßt hat, kann ich wohl kaum erinnern. Es ist mir aber so oft erzählt worden, daß ich am 25.IX.1917 große Hemmung hatte, in der Nachbarschaft die Nachricht zu überbringen, daß wir das vierte Mädchen hatten.
Die nächste Erinnerung ist August 1914. Mutter stand mit uns drei Mädchen an dem halbrunden Fenster im Flur der Georgstraße. Ich war krank und aus dem Bett geholt worden und hatte den roten Morgenrock an, den nach mir meine Schwestern erbten. Vater zog in Uniform zusammen mit Stelter in den Krieg und drehte sich am Gartentor zu uns um. Ich sehe sein völlig verändertes Gesicht vor mir. Ich habe lange gebraucht, bis ich Mutter danach gefragt habe. Ich hatte eine unbestimmte Angst vor dem, was ihn so verändert hatte. Mutter antwortete, er wäre tieftraurig gewesen über das Schicksal, das über Deutschland hereingebrochen war, er hätte geweint. Von Kaiser Wilhelm II. hielt er nie viel und gab ihm viel Schuld. Verächtlich sprach er nur von W 2.
Diese depressive Stimmung hat sich während des Krieges verschlimmert. Er haßte Krieg, Schießen und Töten. Außerdem hatte er eine langweilige Verwaltungstätigkeit, die seine Begabung brachliegen ließ. 1917 oder 1918 hat man seine seelische Verfassung als Krankheit angesehen und ihn in ein Sanatorium nach Goslar eingewiesen. Ich war damals in den Ferien bei Süchtings, wo ich schrecklich unter Heimweh litt. In unserer Familie war ich die Große. Bei Süchtings mußte ich mit dem kleinen Peter zusammen früher als die anderen ins Bett. Wenn ich Kuhglocken hörte, liefen mir die Tränen. Noch heute kann ich sie nicht hören, ohne wehmütig zu werden. Ich war froh, wenn ich am Wochenende Vater besuchen durfte, und lebte von Sonntag zu Sonntag.
Vater ist im Krieg nie an der Front gewesen. Nur einmal hat er geschossen. Es ging um die Eroberung eines Dorfes. Er hat sich Jahre später noch darüber gewundert, daß er Hurrah Hurrah dabei geschrien hat. Er hat tüchtig über Massensuggestion nachgedacht, die auch einen nüchternen, pazifistisch gesonnenen Mann anstecken kann.
Als Vater 1918 heimkam, spielte er für uns Kinder keine große Rolle. Ich glaube, wir sahen ihn nur zu den Mahlzeiten. Ich fand es nicht recht, daß er Feinkost und Ausgefallenes aufgetischt bekam, das für uns Kinder zu üppig war. Das wäre in meiner Familie nicht denkbar gewesen, ebensowenig wie, daß die "Dienstmädchen" in der Küche aßen und geklingelt wurden, um den nächsten Gang zu bringen. Das verletzte mein menschliches Empfinden schon als Kind. Ich höre noch seine skandierende Art durch die Bürotür tönen, wenn er Schriftsätze diktierte. Er war immer in seinem Büro, sogar am 2. Weihnachts- und Ostertag wurde der Ofen im Büro angeheizt. Vater war wieder unsichtbar.
Weihnachten feierten wir mit allen Hausangestellten zusammen. Mutter deckte für jeden einen Gabentisch. Nach dem Christgottesdienst saßen wir alle zusammen und sangen Weihnachtslieder. Vater richtete das Letzte an den Gabentischen und zündete die Wachskerzen an der Tanne an, die bis unter der Decke reichte. Dann klingelte er, die Tür ging auf, und wir sangen: "Vom Himmel hoch".
Er war nicht kirchlich. Mutter hat schwer mit ihm zu tun gehabt, um ihn dahin zu bringen, daß er mit uns in die Kirche ging, als ich konfirmiert wurde. Evchen und Rosi, die ja in sehr jungen Jahren der Kirche verbunden waren im Gegensatz zu uns drei Heiden, hatten ernsthafte Schwierigkeiten mit ihm, als sie in den Kindergottesdienst gehen wollt, den er primitiv fand und im Niveau nicht gut genug für seine Töchter.
Nach der Revolution 1918 war Vater der Meinung, daß der Marxismus die konservativen Kräfte zwänge, politisch tätig zu werden. Er wurde in den Preußischen Staatsrat gewählt. Ich hoffe, der Name ist richtig. Was er politisch zu entscheiden hatte, weiß ich nicht mehr. Ein selbständiges Hannover innerhalb Preußens war sein Ziel, Föderalismus für ihn die bessere Staatsform als etwa der Zentralismus in Frankreich. Als die Alliierten nach dem 2. Weltkrieg das Land Niedersachsen entstehen ließen, saß der Oberpräsident Hagemann mit verschränkten Armen in der ersten Reihe vor den Vertretern der englischen Besatzungsmacht und klatschte nicht wie die ganze Versammlung: Aus der Hand der Sieger wollte er sein Hannover nicht geschenkt bekommen.
1946 suchte man nach möglichen höheren Verwaltungsbeamten, die nicht Mitglied der NSDAP gewesen waren. Die waren rar. Mutter hat gelauscht, als die englische Besatzungsmacht bei Vater auftauchte. Vater sprach fließend französisch, aber nicht englisch. Mutter hörte nur yes und no. Hinterher war Vater Oberpräsident der Provinz Hannover, aber nur so lange, bis die Labour-Party in England ans Ruder kam. Da wurde der konservative Hagemann gegen den Sozialdemokraten Kopf ausgetauscht, den Vater hoch schätzte. Ich wollte, wir hätten heute Politiker vom Format Kopf, Kaisen, Nevermann.
Da fällt mir ein zweites Gespräch ein, das Mutter belauscht hat. Die Männer vom 20. Juni hatten recht, wenn sie Vater gesinnungsmäßig zu den Ihren zählten, und wollten ihn einbeziehen in den Kreisauer Kreis. Vater hat geantwortet: "Ich bin ein Mann des Wortes und nicht der Tat." Fürwahr, er war kein Verschwörer und kein Bombenleger. Aber er war ein Mann, der Zivilcourage hatte, keine Angst vor Thron und Altar.
Eine lustige Geschichte vorweg. Vater geriet am Celler Bahnhof in einen Bombenangriff. Die Leute flüchteten unter den Tunnel. Eine hysterische Frau drohte, Panik unter allen auszulösen. Vater tröstete: "Stellen Sie sich dicht an die Wand. Ich stelle mich vor Sie. Wenn eine Bombe fällt, bleibt sie in meinem dicken Bauch stecken und Ihnen geschieht nichts." Er hatte die Situation im Griff.
1918 soll er an einer Schar meuternder Soldaten langgegangen sein und sie nur mit seiner ruhigen Haltung und dem fest auf sie gerichteten Blick daran gehindert haben, ihm die Epauletten abzureißen.
Ich saß in Hannover unter den Zuschauern, als er Landesbischof Marahrens in seinem Prozeß gegen die NSDAP verteidigte. Mir ist das Herz stillgestanden vor Furcht, und ich habe ihm hinterher gesagt: "Du redest Dich um Kopf und Kragen." "Wieso - das Recht ist auf Marahrens' Seite!" Er hat den Prozeß gewonnen.
Von da an war er Spezialist für Pastorenprozesse, weil nur wenige Anwälte die Courage hatten, gegen die Partei anzutreten. Wir waren in der Zeit auf der Kippe. Die ersten Zweifel plagten uns, daß Hitler uns aus dem Elend der Jahre nach dem ersten Weltkrieg herausholen könnte. Die Hoffnung von 1933 hatte ihren ersten Knacks. Die Reichskristallnacht hatte uns erste Schudder über den Rücken gejagt: "Was kommt da auf uns zu?" Mutter flüsterte: "Vater weiß aus den Pastorenprozessen schreckliche Sachen, aber er will nicht, daß ich und Ihr Kinder dadurch belastet werden."
Eines Tages hat Vater sich gefragt: "Was ist das eigentlich, was Pastoren befähigt, solche Leiden auf sich zu nehmen, ja selbst den Tod zu erleiden?" Da hat er angefangen, Bibel zu lesen und in die Kirche zu gehen. Da war in Neuenhäusen Pastor Voigt. Ein Klappstuhlpastor - will heißen, daß die Kirchenbänke nicht reichten und die Gottesdienstbesucher sich eine Sitzgelegenheit mitbrachten: Gläubig, fromm, aber auch geistreich, klug, redegewandt, begabt. Vater ging aus Neugierde, Sympathie für Voigt; aus Protest gegen die Partei. Seiner Freude an gescheiter Rede, gutem Deutsch, geistreicher Interpretation wurde voll und ganz Genüge getan. In der Kirchentür stand der Küster. Wenn einer der Spitzel der Gestapo auftauchte, gab er seinem Pastoren ein verabredetes Zeichen, daß er vorsichtig sein sollte. So sehr sich Vater um den Glauben seiner Klienten bemühte, ich glaube nicht, daß er je die Hände zum Beten gefaltet hat.
Wir Kinder haben nicht viel Beziehung zu Vater gehabt. Die sonntäglichen Spaziergänge nach Halsmühlen waren langweilig. Ein wenig mehr Familiengemeinschaft war da, wenn er sich am Sonntag vorsingen ließ: Mutter am Klavier, ich zweite Stimme, die Geschwister erste. "Am Brunnen vor dem Tore", "Muß i denn zum Städele hinaus", Erks Liederschatz habe ich aus dem Erbe für meine Kinder gerettet. Später kamen denn auf Evchens und meine Initiative Zupfgeigenhansel und mittelalterliche Weihnachtslieder dran.
Evchen und ich waren in die Nachfolgeorganisationen des Wandervogels gekommen. Das hatte Vaters Sympathie, nachdem er als Zaungast bei einer Sonnenwendfeier dabei war und uns hatte singen hören und volkstanzen sehen: Ade zur guten Nacht - all mein' Gedanken, die ich hab' - kein schöner Land in dieser Zeit. Er hatte wohl das Gefühl, daß sich da nach dem Kriege etwas Lebendiges, Schlichtes, Fröhliches anbahnte. Er ließ uns mit der Gruppe auch tagelang wandern. Am Wochenende waren wir meist in einer Jugendherberge im Umkreis von Verden, kochten überm offenen Feuer im Freien, sangen und tanzten Volkstänze.
Vater hielt uns außerordentlich sparsam. Erst nach der Währungsreform haben wir schmerzlich erfahren, wie wohlhabend er war. Aber er war für sich auch sparsam. Es konnte wohl keine Rede davon sein, daß er so oft Wein trank wie wir. Es gab 2-3 mal im Jahr die großen offiziellen Einladungen, aber sonst nur das Geselligsein am Sonntag Abend mit Kösters und Plathners mit einem "Gläschen" Wein und viel Unterhaltung.
Er reiste einmal im Jahr allein. Ich meine zu erinnern, daß er nach Kompaß im Inland und Ausland wanderte. Jugoslawien weiß ich mit ziemlicher Sicherheit. Wir mußten 4. Klasse Bummelzug nach Heidelberg fahren, als wir Mädchen zu fünft wandern wollten, den Neckar entlang zur Tauber bis an den Main. Die abendliche Wanderung durch den Odenwald ist mir die liebste Erinnerung. Vater war zur gleichen Zeit im Wagen (mit Fahrer) unterwegs, traf uns in Miltenberg und fütterte uns mit Fleisch raus. Wir selber lebten überzeugt einfach und nur vegetarisch.
Interessieren taten ihn unsere Schulleistungen, aber nur die intellektuellen. Wer da nur zweien hatte, bekam zur Belohnung ein Stück Torte nach Wahl von Konditor Seiffert. Ein Stück Torte - wie bescheiden in unserer Überflußgesellschaft! Und dennoch welche Auszeichnung! Heute finde ich es nicht gut. Evchen und ich bekamen diesen Lohn, weil wir intellektuell begabter waren. Tüschen war eben nur 2-3. Evchen war unsere Klügste. Ihr fielen die guten Noten zu, auch wenn sie faul war. Ich Arme hatte Lust zu Schularbeiten. Ich erinnere, daß ich das neue Lesebuch schon mit Beginn des Schuljahres durchlas und weitaus mehr Dreieckskonstruktionen machte, als wir aufhatten. Es machte mir einfach Spaß, mich an Konstruktionen zu wagen, die über unser Pensum hinaus gingen. Ich weigere mich heute noch, mich als Streber zu beschimpfen, wo ich einfach Spaß an der Freud hatte. So sehr das Vater freute, um 5h wurden mir die Schulbücher weggenommen. Mit Lesen hörte ich dennoch nicht auf. Um so weniger finde ich es heute richtig, daß ich für gute Zensuren belohnt wurde. Tüschen wurde mir als Beispiel vorgehalten, weil sie Mutter half und lieb Besorgungen machte. Ich wurde wütend: "Die ist bloß froh, wenn sie keine Schularbeiten zu machen braucht."
Vater gab uns so viel Taschengeld, daß wir die kleinen Schulausgaben davon bestreiten konnten. Wir mußten monatlich eine Abrechnung vorlegen. Als Studentin bekam ich am ersten Januar einen Jahreswechsel. Dem Vermögen meines Vaters entsprach er mitnichten. Vater stand auf dem richtigen Standpunkt, daß es leichter wäre, einfach erzogen zu sein und sich später an einen höheren Lebensstandard zu gewöhnen als umgekehrt. Mein Jahreswechsel mußte reichen für Studium, Bücher, Miete, Essen, Reisen, Garderobe. Vater hat sich immer lustig gemacht über meine Leidenschaft fürs Einfache, Spartanische. Mein knapper Jahreswechsel machte mich bange, daß ich bis zum 31.XII. nicht hinkäme. So stieg ich eine Station früher an der Tarifgrenze aus, wenn ich in Berlin Max Hagemann besuchte, und sparte 20 Pfennig. Wirklich sparen konnte ich nur am Essen und an der Garderobe. Als Pieter mich kennenlernte, fand er, daß Landeshauptmanns Tochter bessere Qualitäten tragen könnte. Diese Erziehung ist mir in Kriegs- und Nachkriegszeiten sehr zustatten gekommen.
Menschliche Verbindungen zu Vater hatte ich als Studentin. Er umspannte mit seiner Hand meinen Oberarm, spazierte mit mir durch den Garten und ließ sich erzählen und antwortete. Es war ein richtiges Gespräch. Nach Berlin habe ich sogar einen Brief von ihm bekommen. Meine Freundin Dorothee hatte Probleme, von denen ich geschrieben hatte. Sie studierte Jura und interessierte den Juristen. Viel später, als Pieter und ich verheiratet waren, hat er gerne zugehört, wenn wir im Südwall auf der Terasse saßen und Medizinisches erzählten. Pieter war Allround-Assistent im Krankenhaus, ich im Gesundheitsamt in der Mütterfürsorge, der Tbc-Beratung und der Kontrolle der Damen vom horizontalen Gewerbe.
Wir sind nach damaligen Begriffen tolerant erzogen worden. So durften wir "frech" sein, das hieß, daß wir Kritik an unseren Eltern üben durften und sagen, wenn wir etwas nicht für richtig hielten. Wir bekamen zwar einen symbolischen Klapps auf den verdrehten Oberarm, aber Vater ließ es sich sagen. Und mit den Freunden seiner Töchter war er sehr viel großzügiger als andere Eltern 1925. Ich war 16jährig schon mit Heinz-Christoph nahe befreundet. Ich durfte nicht nur mit ihm spazieren gehen, ihn in München besuchen, wo er studierte, als ich in die Oberprima ging. Ich durfte mit ihm paddeln und radeln und verdanke Vaters Großzügigkeit herrliche Erinnerungen an die Mecklenburgischen Seen, an Werra, Weser, Aller und die Lüneburger Heide und die Insel Rügen.
Tolerant war er auch, als er mit mir 1931 zur Wahl ging, wo ich zum ersten Mal bei der Dämlichkeit der Deutschen mitmachte und NSDAP wählte. Er versuchte nicht, mich von der unguten Wahl abzubringen. Er ging neben mir, umspannte wie immer mit seiner Hand meinen Oberarm und guckte mich unentwegt von der Seite mit seinen dunklen Augen an. Nach der Wahl fragte er nur: "Nun". Ich nickte. "Du wirst es bereuen, er führt uns in die Katastrophe."
Einschneidende Veränderungen für ihn selbst ergaben sich bald nach der Machtübernahme 1933. Er wurde vor die Wahl gestellt: Eintritt in die NSDAP oder Abschied vom Landeshauptmann. Ich sah, daß er mit den neuen Herren mit Sicherheit in Konfrontation geraten würde und riet ihm, den Abschied einzureichen. Man mußte nur sehen, wie Vater den Hitlergruß vollzog, den er in seiner Position nicht immer bei Empfängen vermeiden konnte: Der rechte Arm im Ellenbogen gekrümmt, die Finger wie Krallen gebogen. Das Gesicht verriet die totale Ablehnung. Er hatte in der Behörde unter den höheren Beamten einen, mit dem er vertraut war. Im Gespräch mit ihm wollte er die Entscheidung fällen. Er nahm mich mit. Bei dem Gespräch war ich nicht dabei und ging lange, lange Zeit in dem blühenden gepflegten Garten dieses Freundes umher. Er hat wohl im selben Sinn mit Vater gesprochen wie ich. Da Vater freiwillig seinen Abschied einreichte und nicht entlassen wurde, bekam er seine gute Pension. Der Landeshauptmann war immerhin der höchste Beamte der Selbstverwaltung der Provinz. Vater war damals 54 Jahre alt. Der SA-Chef Lutze, der ihn persönlich schätzte, hat sich für ihn verwandt, daß Vater am Oberlandesgericht Celle als Rechtsanwalt zugelassen wurde. Lutze begründete das damit, daß Vater in so jungen Jahren nicht ohne Arbeit leben könne und einen Beruf brauche, er hätte sich nichts zuschulden kommen lassen.
Insgeheim wünschte sich Vater wohl Schwiegersöhne unter den Söhnen seiner politischen Freunde aus der Zeit 1918-1933. Die stammten zumeist aus den hannoverschen Adelsgeschlechtern. So mußte ich und später auch Tüschen (glaube ich) zu den Celler Adelsbällen zwischen den Festen, jedes Jahr wieder ein Horror für mich. Diese Familien waren untereinander versippt und verschwägert und freuten sich, sich einmal im Jahr zu treffen. Ich war völlig fremd. Ich hätte schon sehr hübsch und eine attraktive Tänzerin sein müssen, wenn einer von mir hätte Notiz nehmen sollen. So war ich ein kreuzunglückliches Mauerblümchen. Der Ärger fing für mich schon an, wenn ich im Hotel mit Fräulein "von" Hagemann angeredet wurde. Ich war bürgerlich und wollte es in dieser hochmütigen Gesellschaft erst recht bleiben. Schließlich habe ich gestreikt, ich ginge nicht mehr hin. Ich studierte, hatte meinen Lebenskreis und Interessen, über die ich bei den Adeligen nicht sprechen konnte. Und ich hatte Selbstbewußtsein gekriegt. Es gab einen großen Familienkrach. Um der häuslichen Kriegsstimmung zuhause zu entfliehen, gingen wir Schwestern zu Kösters, wo wenig später unsere Eltern aus dem selben Grund auftauchten. Wir mußten uns wohl oder übel unbefangen geben und verzehrten danach die heimische Weihnachtsgans ziemlich schweigsam, aber mit Anstand.
Ich mußte trotzdem hin.
Aber Vater hatte offensichtlich während des Balles zum ersten Mal nach seinen Töchtern geguckt. Am nächsten Tag sagte er mir: "Du brauchst nicht wieder hin. Du hast recht, die Söhne meiner Freunde, die in Celle vertreten sind, haben nicht das Format ihrer Väter."
Immerhin ein Vater, der sich mit der Meinung seiner Tochter auseinandersetzen und nachgeben konnte.
Als Kind hatte ich schon eine ähnliche Auseinandersetzung. Da kam irgendetwas Herzoglich-Welfisches nach Verden, wir Mädchen sollten Blumen überreichen, einen Knicks machen und etwas Devotes sagen. Ich erfuhr, daß ein hochwohlgeborenes Knäblein dabei war. Ich geriet außer mir. Einen Knicks vor einem Jungen zu machen, der jünger war als ich, das fiel mir im Traum nicht ein. Vater stellte sich auf meine Seite. Ich war bei dem Empfang nicht dabei, Vater selber sicher. Ich hätte ihn bestimmt blamiert.
Leider ist das Verhältnis während und nach dem 2. Weltkrieg allmählich getrübt worden. Das Geld, das leidige Geld! Wenn ich schon über Vater schreibe, so muß auch von den Schattenseiten die Rede sein. Eine Laudatio will ich nicht halten. 1938 fing es schon an, als wir uns in Scheeßel niederließen. Die Ärztekammer wollte den Bewerber vorziehen, der das Haus des verstorbenen Dr. Walbaum der Witwe abkaufte. Vater wollte uns das Geld leihen, forderte allerdings ½% mehr Zinsen als üblich. Das schluckten wir noch. Dann setzte er einen Schuldschein auf, in dem nicht die Summe stand, die er uns lieh, sondern der Verkehrswert des Hauses. Bei einer neuerlichen Geldentwertung sollten wir ihm den Wert des Hauses schulden und auf den Vorteil verzichten, daß auch Schulden abgewertet würden. Pieter lehnte ab. Die Sparkasse Scheeßel war auch bereit, dem Nachfolger Dr. Walbaums das Geld für den Erwerb des Hauses zu leihen. Da stellte sich heraus, daß Vater nur zu gern sein Geldin einem Scheeßeler Grundstückskauf anlegen würde, und er schrieb den Schuldschein aus, wie es rechtens war. Ich führte in den letzten Kriegsjahren Pieters Praxis und verdiente. Ich wollte Schulden bei Vater zurückzahlen. Er verlangte, daß ich zuerst die niedriger verzinsten Hypotheken der beiden Witwen Walbaum ablöste. Vor der Währungsreform lag das Geld für die Schulden bei Vater auf dem Sparkassenbuch, er wollte es nicht haben, wollte unsere Schulden aber auch nicht abwerten, während mein Konto natürlich abgewertet wurde. Ich habe nach der Währungsreform die Schulden bei ihm nur zu 1/10 abbezahlt. Er hat nie ein Wort darüber verloren. Es war ihm wohl klar, wie unhaltbar seine Forderung war.
Dann kam Südwall 26, das er an uns Kinder überschrieb. Vater vereinnahmte die Mieten. Pieter sollte 1/5 der Mieteinnahmen versteuern. Der Steuersatz war nach dem Kriege sehr hoch. Es gab eine sehr unerquickliche Auseinandersetzung in Evchens Garten bei Lehrte. Vater gab nicht nach und wir trennten uns verärgert. Zum Schluß kam dann noch, daß ich in seinem Testament nicht bedacht werden würde, weil er ja unser Haus finanziert hätte, und meine Antwort, wir hätten Zinsen und Schulden zurückgezahlt und wären 1938 auf sein Darlehen nicht angewiesen gewesen, unser Haus gehörte uns.
Und das alles angetan von einem Vater, der wohlhabend war. Das Verhältnis zwischen Vater und mir ging in Schweigsamkeit über. Wir sahen uns selten.
Nach seinem Autounfall war dann überhaupt kein Gespräch mehr möglich. Ich sehe ihn noch lesend im Sessel sitzend, aber er blätterte nicht um. Ich sehe ihn dunkel und starr am Fenster stehen und unentwegt in den Garten gucken. Vaters geistige Verarmung wurde schlimmer. Schließlich hat er sich in Celle verlaufen und wurde auf fremden Treppenstufen hockend gefunden. Ein gnädiger Schlaganfall brachte ihn dann in das Pflegeheim in Rotenburg. Mutter wohnte bei Evchen. Der behandelnde Arzt gab guten Gewissens unserer Bitte nach, sein Leben nicht durch Medikamente zu verlängern. Er lag friedlich im Bett, ohne uns zu erkennen. Er sprach leise französisch vor sich hin, die Sprache, die er liebte.
Das ist meine letzte Erinnerung an ihn.
Elisabeth

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