Erinnerungen an die Kinder- und Jugendjahre

Aus Familienalbum
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Elisabeth Hillebrand


Erinnerungen an die Kinder- und Jugendjahre


Vorbemerkung: Diese Erinnerungen schrieb Elisabeth vom 25.-27. Juni 1992 auf Wunsch ihrer Enkelin auf, da die Lebenserinnerungen ausschließlich Geschichten aus der Kindheit ihres Mannes enthalten. Inhaltlich überschneidet sich der Text teilweise mit den Aufzeichnungen über Wilhelm II und den 1. Weltkrieg.
Bei der Abschrift wurden nur minimale Korrekturen vorgenommen und der besseren Lesbarkeit halber Absätze eingefügt.
Als ich auf den Lesekreis verzichten mußte, weil meine Ohren eine allgemeine Diskussion nicht mehr verstehen konnten, gab ich die einzige geistige Anregung, die ich in Scheeßel hatte, auf - schweren Herzens. H.M. lud mich und einige andere Frauen des Lesekreises zu einem Abschiedskaffee ein, und Frau P. schenkte mir im Namen des Lesekreises einen wunderschönen Blumenstrauß. Daraus durfte ich wohl schließen, daß mein Diskussionsanteil neben denen der viel jüngeren, belesenen Frauen bestehen konnte. Es gab auch einmal eine zweite Bestätigung. Eine Frage wurde aufgeworfen und eine Teilnehmerin rief mir zu: "Die beantworten Sie. Sie können das am besten."
An jenem Nachmittag fragte mich jemand, ob ich denn nie in Protesthaltung zu meinen Eltern gestanden hätte: "Nein" und nach einer Pause: "Meine Mutter merkte, wenn mich ein Problem umtrieb, und sie hatte die Fähigkeit, mich zum Sprechen zu bringen und mit mir zu reden." Alles Verständnis hatte sie für die sozialen Probleme, die mich bedrängten. Unsere private "Töchterschule" in Verden stellte zum ersten Mal eine Freistelle für eine begabte Volksschülerin zur Verfügung. Grete Söller war ihren neuen Klassenkameradinnen gegenüber gehemmt, und meine Klasse machte es ihr schwer. Ich erreichte, daß ich neben ihr saß. Wir hatten Schulbänke mit zwei Sitzen und einem Pult davor. Manchmal, wenn sie mit Antworten Schwierigkeiten hatte, nahm ich ihre Hand. Eine Lehrerin hat das gemerkt und hat mich gescholten und verspottet. In der Konfirmandenstunde glaubte ich, eine Gemeinschaft zwischen den drei Schulzügen müßte in der gemeinsamen Religion möglich sein. Ich ging betont mit den Volksschülerinnen nach Hause, was meine Klassenkameradinnen mit spöttischer Ablehnung quittierten. Ich erinnere nicht, daß die Volksschülerinnen mich ablehnten. Einmal hat der Pastor einen Jungen mit Ohrfeigen traktiert, weil er seine Aufgaben nicht gelernt hatte. Ich brach in ein fassungsloses Schluchzen aus. Der Pastor Feise wußte gar nicht, wie er reagieren sollte. Er ließ mich nach der Stunde zu sich kommen, und ich schluchzte: "Ein Pastor darf doch nicht schlagen." Ich glaube, daß es ihm Eindruck machte.
Meine Eltern merkten wohl, daß ich nachdenklicher war als meine beiden Schwestern und gaben mir ein eigenes Schlafzimmer. Mutter betete zur Guten Nacht mit jedem ihrer Kinder. "Kranken Herzen sende Ruh, nasse Augen schließe zu, laß den Mond am Himmel stehen und die stille Welt besehen." Irgendwo gab es auch die Zeile: "Vater laß die Augen Dein über meinem Bette sein." Wenn wir älter waren, betete sie das Vaterunser. Meine Schwestern wunderten sich, wie lange Mutter bei mir am Bett sitzen blieb. Aber es war eine vertrauliche Atmosphäre, die mir das Reden leicht machte. Mutter war nicht zärtlich mit uns Mädchen. Ich möchte fast von nüchterner Bereitschaft sprechen. Sie empfand meine soziale Empfindsamkeit von ganzem Herzen, aber sie übte Kritik an der Herausstellung, durch die ich auch andere taktlos verletzen könnte und in Isolierung geraten. Ich müßte langsam versuchen, in der Klasse die Stimmung zu ändern, die sich besser dünkten als die Volksschüler.
Im Hause gab es auch Probleme. Es war allüberall Sitte, daß die Herrschaft klingelte, wenn der nächste Gang serviert werden sollte. Mir war das peinlich. Nach dem Abendbrot hatte Vater Zeit für Gespräche. Im besonderen erinnere ich aus meiner Gymnasiumszeit seinen Geschichtsunterricht, seine Verurteilung der Kreuzzüge mit ihren hohen Verlusten. Seine Wertschätzung gehörte Heinrich dem Löwen, der sich um die aufblühende Wirtschaft in seinem Lande kümmerte. Die harte Kritik an Kaiser Wilhelm II, dem er die Schuld am 1. Weltkrieg gab. (Wegnahme von Elsaß Lothringen 1870, Ausbau der Kriegs- und Handelsflotte, Kaltstellung der Verbindung zu England) In der Schule wurden wir monarchisch beeinflußt: "Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin ..." Mutter wurde beim Abendessen unruhig: "Vater ... die Mädchen." Die mußten noch abräumen, abwaschen, und sollten Feierabend haben. Aber wenn Vater ins Nebenzimmer gehen sollte, dann war es mit dem Gespräch aus.
Ich war 5 Jahre, als der Krieg ausbrach. Wir Schwestern standen mit Mutter [am Fenster], als Vater in Uniform aus dem Gartentor ging. Mutter erwartete Rudolf - Dezember 1914. Ich fragte später: "Vater hatte solch ein komisches Gesicht?" "Er war traurig, daß Krieg war, und er hielt es für ausgeschlossen, daß wir ihn gewinnen." Mutter holte einen Atlas, zeigte mir, wie Deutschland in der Mitte lag, daß wir einen Zweifrontenkrieg nicht gewinnen könnten. Das war für mich kleines Mädchen zuviel an Belastung. Mich ergriff eine große Angst. Mir blieb der Jubel im Hals stecken, wenn wir in der Schule die Siege bei der schwarz weiß roten Fahne feierten: Heil dir im Siegerkranz, Retter des Vaterlands, heil Kaiser dir!" Ich hatte immer Vaters Gesicht vor Augen. 1918 füllte Mutter alle Töpfe, Kessel und Wannen mit Wasser: "Warum?" "Die Kommunisten planen den Generalstreik und dann fließt kein Tropfen Wasser aus unseren Hähnen." Damit hat sie mir die Kommunistenfurcht eingeimpft - dauerhaft bis heute. Heute sehen wir, wie die kommunistischen Diktaturen Bevölkerung und Länder zerrüttet haben.
Im Krieg ist es uns gut gegangen. Mutter schaffte sich Hühner und Hahn und Schweine an. Die Hennen brüteten, und Mutter zog Küken groß. Das hat man Felix Kleins Tochter nicht an der Wiege gesungen. Wir hatten Obst im Garten die Hülle und Fülle. Mutter weckte ein, kochte Marmelade. Aus Blumenbeeten wurden Gemüsebeete. Wir hatten zwei Hausgehilfen, die in der Landwirtschaft groß geworden waren. Vom Selbsterzeugten brauchten wir nichts abzugeben. Wir hatten Spielgefährten. Alle Nachbarn hatten Kinder. Auf den autofreien Straßen liefen wir Stelzen, trieben Holzreifen mit einem Stöcken, Murmeln, Ballspiele, gesellige Spiele im Garten: Verstecken, Drittenabschlagen, Räuber und Gendarm. Turnstange und Schaukel. Im Winter stellten uns Privathäuser einen warmen Raum für die Schule zur Verfügung. Deutschland selbst war nicht Schlachtfeld wie bei Hitler. Opa hatte es in Duisburg viel schlimmer, hat die Steckrübenwinter durchgehungert. Sein Vater (Kutschers Konrad) hatte eine böse Furunkulose. Sein Doktor schrieb ein Rezept über Schinken, Wurst und Speck. Das brachte Rix Mariechen zu den bäuerlichen Verwandten in Alfen. Im Haus in Duisburg war ein Dachkämmerchen mit einem winzigen Zugang. Da lag alles sicher bei Hausdurchsuchungen.
Heute kam Anne-Katrins Brief, in dem sie Fragen stellte, aber auch von sich erzählte. Der drehte bei mir den Schreibhahn auf, und aus der Feder floß Tinte ohne Unterlaß. Ich brauchte nur zu Papier zu bringen, was in meinen nächtlichen Gedanken gründlich vorbereitet war, viele Male überdacht. Ich lebe oft in der Vergangenheit meines langen Lebens.
Unsere private "Töchterschule" in Verden war nicht anerkannt, und die ganze oberste Klasse mußte nach Hannover zur Prüfung, um die "Mittlere Reife" zu erlangen, schriftlich in Deutsch, Französisch, Englisch und Mathematik. Die mündlichen Fächer erinnere ich nicht mehr. Wir hatten Zoologie, Botanik und Heimatkunde, die durch Wanderungen in die nahe Umgebung und Ausflüge in die weitere Umgebung veranschaulicht wurde. Ich erinnere einen Ausflug in den Solling (Wesergebirge), wo der Nebel morgens so dicht war, daß wir uns an den Händen halten mußten, damit niemand verloren ging.
In der letzten Klasse hatten wir Biologie. Es wurde uns erklärt, daß die Zentren für das Funktionieren des menschlichen Körpers im Gehirn sitzen, die Augen könnten sehen, aber im Gehirn säße das Wesentliche, daß wir erkennen, was wir sehen. Das Sprachzentrum umfaßte viele Zentren: Sehen, Hören, das Gedächtnis und die Fähigkeit, Mund, Kehlkopf, Zunge zum Sprechen zu kombinieren, der aufrechte Gang wäre nur durch das Gleichgewichtszentrum möglich, die Intelligenz säße im Großhirn und zeigte sich durch die hohe Stirn. Da kam eine Stimme aus der Klasse von Alice Schulz: "Betta hat keine hohe Stirn, ihre Haare sind nur so weit zurück angewachsen!"
Alice Schulz bestand als einzige die Prüfung nicht, Betta so gut, daß Vater beschloß, ich sollte Abitur in Bremen machen. Tägliche Eisenbahnfahrt eine Stunde. Mein Vater hat einen großen pädagogischen Fehler begangen. Er hätte mich gleich auf das Gymnasium auf naturwissenschaftlicher Basis schicken sollen, zumal ich in Mathematik die beste Schülerin war. Er bestand auf dem großen Latinum, ließ mich ein Jahr lang lateinische Privatstunden in Bremen nehmen, um vier Jahre Latein nachzuholen, was ich nur knapp schaffte. Dafür verlor ich das Wissen für alle anderen Fächer in einem Jahr ohne Schulbesuch. Wenn er mich wenigstens in die Untersekunda geschickt hätte, um an der "Kleinen Helle" [Mädchengymnasium in Bremen] noch einmal "Mittlere Reife" zu wiederholen. Statt dessen gleich Oberstufe (Obersekunda) in einer städtischen Schule mit viel höherem Anspruch als in Verden.
Das konnte nicht gut gehen. Ich wurde eine mäßige Schülerin und war doch gewohnt, zusammen mit Gertrud Brinkmann in Verden die beste zu sein. Sogar in Mathe habe ich einmal eine Verwarnung gekriegt. Hätte die Schulleitung Vater nicht beraten müssen? Deutsch, Geschichte, Biologie, Chemie wurden allmählich wieder zu guten Leistungen. Sprachen eben ausreichend. Aber in drei Jahren habe ich das Abitur geschafft, und 1929 kam es auf die Qualität nicht an. Medizin konnte ich studieren.
Vater hat daraus gelernt. Schwester Evchen wurde in die Untertertia in Bremen eingeschult, und sie wurde bei Verwandten in Pension gegeben. Sie machte humanistisches Abitur mit Griechisch und Latein, hatte bei einem Pastoren in Verden hebräischen Unterricht, weil sie Theologie studieren wollte. Sie und Tante Rosi sind von Kindergottesdienst an gradlinig den kirchlichen Weg gegangen. Beide haben Pastoren geheiratet. Evchen studierte Religion und Mathematik und wurde Lehrerin, Rosi Diakonisse nach dem Helden???Tod ihres Mannes in Rußland. Wir drei anderen hatten von Kinderzeiten an keine Antennen für das kirchliche Leben. Daß uns die Intelligenz im Wege stand, daran kann es nicht liegen. Die Humanistin Evchen war die gescheiteste, intelligenteste von uns fünf Kindern. Auch Tante E?, Felix Kleins Tochter und Mitarbeiterin, war eine fromme, gläubige Christin. Mein Schwiegervater, Landesbischof Lilie, Weizsäcker und seine theologischen Vorfahren und viele andere lassen meine Erklärung nicht gelten, daß der Verstand die Religiosität erschwerte. Ich habe Opas Freund Karl Wienert bei einer Messe beten sehen. Er hatte ein verändertes entspanntes Gesicht, tief versunken im Gespräch mit Gott. Und Luther war kein Dummerjohann. Es ist ein weites Feld, um mit Effi Briests Vater zu sprechen. Und dennoch meine ich, die Aufklärung hat die religiöse Basis des mittelalterlichen Lebens zerstört.
Wo ich nun von meiner Biographie auf einen Seitenweg geraten bin, kann ich aus der Schulzeit nachtragen, daß ich Freundinnen hatte. Wir trafen uns zu viert einmal in der Woche zu einem Kränzchen. In der Studiumszeit war es nicht anders. In jedem Semester hatte ich Freundschaften, meist aus anderen Fakultäten, aber sie hielten nicht, wenn ich die Uni wechselte. Die liebste von allen war Frau Dr. Mecke während meiner eigenen Praxis. Da brauchte ich auch bitter nötig jemanden, bei dem ich mein Wort loswerden konnte. Probleme hatte ich genug in der Situation, in die mich die Not des Krieges versetzt hatte. Sie war Ärztin, praktizierte aber nicht. 1971 ist sie an Leukämie gestorben in der Zeit, wo ich mit meiner Bauchspeicheldrüse mein todernstes Tun hatte.
In dem schullosen Jahr 1925/26 hatte ich viel Geselligkeit, spielte Tennis und hatte Zeit, mit meinem Freund für zwei Wochen auf den mecklenburgischen Seen zu paddeln in einer von Zivilisation unberührten einsamen Welt mit einer Unzahl der verschiedensten Wasservögeln. Die heile Natur war damals schon gefährdet, aber wir wußten es nicht. Ich gehörte einer Wandervogelgruppe an und war über Wochenende mit ihr in Verdens Umgebung. Meine vielen Studienorte haben mich Deutschland kennen lernen lassen. Die Wanderung durch den abenddämmernden Odenwald zu dem Ort, wo wir eine Jugendherberge erreichen wollten, die langen Radwege durch das einsame Masuren, das Schwimmen abends in den Seen, eine Wanderung allein mit Evchen über die Kurische Nehrung, die Nächte unter dem Sternenhimmel, wo wir in den Dünen schliefen, auch das gehört dazu, wenn ich von Schul- und Studienjahren erzähle.
In meinen Erinnerungen 1986 steht vieles über meine eigene Praxis. Hinzufügen kann ich nur noch, daß es die Zivilisationskrankheiten nicht gab. Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt, selten Krebs. Mäßiges Essen, keine Süßigkeiten, kaum Zigaretten, kein Alkohol, viel Bewegung zu Fuß und zu Rad gingen zu unserem Schaden in der Konsumgesellschaft verloren. Aber es gab Scharlach Diphtherie, Kinderlähmung und die echte schwere Viruspneumonie, die durch Impfungen uns heute verschonen.
Das größte Glück meiner Praxis: Die lachende, jubelnde Herzlichkeit, mit der mich Polen, Russen, Jugoslawen in ihren Lagern schier erdrückten, als ich nach der Kapitulation zu ihnen kam. Soviel Anerkennung und Sympathie hätte ich nie erwartet.
Ich gucke verwundert auf die couragierte Frau, die ich einmal war in der Notzeit des Krieges.