Bericht über meine Studienzeit

Aus Familienalbum
Wechseln zu: Navigation, Suche


Elisabeth Hillebrand


Bericht über meine Studienzeit


Vorbemerkung: Diesen Bericht schrieb Elisabeth zwischen 1990 und 1994 für die Nichte ihres Mannes Josef Peter Maria Hillebrand. Bei der Abschrift wurden nur minimale Korrekturen vorgenommen und der besseren Lesbarkeit halber Absätze eingefügt.


Ich habe 1929 in Freiburg mit dem Studium angefangen, und es gab für uns Mädchen überhaupt keine Schwierigkeiten mehr. In meinem ersten Semester tat ich mich schon schwer mit dem Alleinsein in der Bude, aber lockere Bekanntschaften für gemeinsame Wanderungen hatte ich bald. Von studentischen Organisationen für Mädchen weiß ich nichts. Ich war schon in Verden in der Bündischen Jugend, die unter verschiedenen Namen sich nicht von dem Wandervogel des beginnenden 20. Jahrhunderts unterschied. Meine Patentante E, Tochter des Mathematikers Klein, unter dessen Bild sein Enkel Meinolf sein erstes mathematisches Examen machte, hat das berühmte Fest auf dem Hohen Meißner mitgemacht, ich ein großes Treffen bündischer Jugend auf dem Ludwigstein (etwa 1923/24). Danach machte ich mit meiner Verdener Gruppe eine Wanderung durch Thüringen, habe also Wartburg, Eisenach, Weimar gesehen.


In Freiburg gab es eine Singgemeinde, die zu dieser Jugendbewegung gehörte. Da habe ich sehr bald mitgesungen und gehörte damit einem größeren Kreis von Studenten an. Da es keine Schwierigkeiten mit Zimmersuche gab, hab ich oft die Universitäten gewechselt und an Wochenenden und zu Beginn der Ferien viel von Deutschland gesehen. Nach dem S.S. 1929 kam meine Schwester Gabriele nach Freiburg, und wir beiden fuhren zu einer Wanderung in die Schweiz, von Ort zu Ort. Der Autoverkehr über den Gotthard war noch dünn, aber diese beiden Mädchen im Dirndl mit Rucksack wurden doch ziemlich verwundert angeguckt. Eine Einheimische zeigte uns dann einen Wiesenpfad, der auch durch Waldbestand über den Gotthard führte. Einzelheiten weiß ich nicht mehr. Wir landeten am Fuß des Gletschers, wo die Rhône entspringt.


Von Kiel aus fuhr ich zu Rad mit meiner Schwester Evchen, einem Studenten Josef Hillebrand und dessen Freund an der Nordseeküste bis Dänemark, waren in Husum, wanderten übers Watt auf eine Hallig und von der zu zwei anderen, schoben unsere Räder über den im Bau befindlichen Hindenburgdamm auf die unberührte Insel Sylt und an der Ostseeseite zurück. In Dänemarks Gaststätten bemerkte man unmutig und laut, daß wir deutsch sprachen. 1930! Hatten wir uns da auch schon unbeliebt gemacht wie später 1940?


Von Greifswald aus war ich mehrmals auf Rügen und spürte der Backsteingotik nach. Evchen und ich sind allein über die kurische Nehrung gewandert und sind, ohne es zu merken, über die deutsche Grenze ins Memeler? oder Tilsiter? Gebiet gekommen. Einmal haben wir unter freiem Himmel in einem Dünental geschlafen. In der Morgendämmerung stand ein Elch am Rande des Tales, erschrak sich mehr über uns als wir über ihn. Mit zwei Freundinnen sind Evchen und ich durch Masuren geradelt, durch allerschönste einsame Landschaft, und haben in klaren Seen gebadet. Irgendwie sind wir auch nach Danzig gekommen, das 1932 noch polnischer Korridor war. Mit Evchens damaligem, mir auch sehr lieben Freund, sind wir in drei Wochen von Königsberg nach Hannover geradelt durch Pommern und Mecklenburg. In Berlin war ich zweimal im W.S. Da stand das medizinische Studium und das Studium generale im Vordergrund. Aber Teile der Mark Brandenburg und den Spreewald habe ich doch ein wenig kennengelernt. Und in Marburg zum Schluß mußte ich fürs Examen arbeiten.


Ihr seht - ein unkompliziertes freies Studium.


Ich hatte überall menschliche Beziehungen und Kontakte, aber keine Freundschaften, die über die gemeinsamen Semester hinaus hielten. Der Krieg hätte sie ohnehin alle beendet. Am 30. Januar 1933 saß ich in meinem Stübchen und las Medizinisches. Der Fackelzug und das Heil Hitler - Geschrei fand ohne mich statt. Einmal wollte ich ihn aber doch angeguckt haben und war im Sportpalast in einer Massenversammlung. Von Hitlers Faszination habe ich nichts gemerkt, und Göbbels war mir höchst unsympathisch. Aber ich stand ja auch auf der Sonnenseite. Mein Vater war Rechtsanwalt, mein Elternhaus harmonisch. Ich studierte und lebte mit Freuden. Wäre ich einer der elenden Arbeitslosen, der Kriegswaisen gewesen, ich hätte vielleicht ganz anders reagiert. Politisch interessiert war ich, las regelmäßig Zeitungen, hielt die Augen offen und habe mir sehr wohl zunächst Hoffnungen gemacht auf eine Gesundung Deutschlands. Die Reichskristallnacht und der Brand des Reichstagsgebäudes haben mir die ersten kalten Schauer über den Rücken gejagt. Von da an wurden die Fragen bohrender: "Was kommt auf uns zu?"


In Kiel gab es die ersten politischen Diskussionen zwischen Anhängern und Gegnern. In Marburg ärgerten uns die Studenten in braunen Uniformen, die sich die ersten Examenstermine schnappten und unverdient ??? glänzende Zensuren bekamen.


Das Medizinstudium verläuft schulmäßiger als andere. Viele Vorlesungen bauten aufeinander auf und wurden von allen in der gleichen Reihenfolge gehört. Das Angebot für individuelle Wünsche war gering. Ich zielte auf eine Tätigkeit in einem Sanatorium, das gesunde Lebensführung lehrt, auch für die Zeit nach der Entlassung. So habe ich mich viel mit gesunder Ernährung befasst, massieren geübt und die verschiedenen Formen der trockenen und feuchten Bäder am eigenen Leibe ausprobiert.


Mein Physikum habe ich ohne viel Mühe mit sehr gut gemacht. Da ging es um Theoretisches und Wissen, noch nicht um das, was die spätere ärztliche Tätigkeit angeht. Jenem Josef Hillebrand machte das Schwierigkeiten, und er hatte keinen Mut, mit Karl Wienert und mir sich zu melden. Er machte es erst nach den Semesterferien. Unsere Wege trennten sich. Erst nach dem Staatsexamen suchte er, die Verbindung zu mir neu zu knüpfen. Im klinischen Studium hatte er seine Begabung für den Arztberuf voll entwickeln können. Aber das habe ich in meinem "Es war einmal" ausführlich erzählt.


Ich machte das Staatsexamen in Marburg. Wir bekamen in den klinischen Fächern einen Patienten zugewiesen und mußten uns über Diagnose, Therapie und Prognose schriftlich äußern. Da gingen viele Stunden draufhin. Die mündliche Prüfung wurde für jeweils vier Studenten abgenommen. Wie man heute im "multiple choice Verfahren" sein ärztliches Können beweisen soll, ist mir schleierhaft. Auf diese Weise kann doch nur theoretisches Wissen bewiesen werden. Für die Diagnostik standen uns nur unsere fünf Sinne zur Verfügung und einfache Laboruntersuchungen, keine Technik, noch nicht einmal ein EKG. In dem letzten Jahr seiner Praxis hat Onkel Josef die Diagnose Tbc mit der Nase gestellt. Der junge Mann war Kellner und lange in Hamburg vergeblich behandelt worden, bis der Vater entschied: "Du kommst jetzt zu meinem Hausarzt in Scheeßel". Das Rö-Bild bestätigte Onkel Josefs Diagnose. Mit einer offenen Tbc hatte dieser Patient wochenlang in einem bekannten Hamburger Lokal gearbeitet. Ich habe im Krieg einmal eine Diphterie erschnüffelt, als ich ins Krankenzimmer kam. Den hab ich dann vom Arbeitsdienst und Militär befreien lassen können.


Ich erinnere mich gerne an die Prüfungen in Psychiatrie bei dem 1934 sehr bekannten Prof. Kretschmer und in Hygiene. Beide arteten in ein "Gespräch" aus. Bei Kretschmer über die schizoid veranlagte Persönlichkeit im Gegensatz zur manisch-depressiven, was ich Euch im einzelnen nicht erklären kann. In Hygiene landete der Prüfer bei Milch. Da hatte ich durch einen Tierarzt besondere Kenntnisse, der mir viel aus der Forschungsstätte für Maul- und Klauenseuche auf der Insel Riems bei Greifswald erzählt hatte.


1985 brachte mir ein Vertreter der Ärztekammer einen Blumenstrauß "zum 50. Jubiläum meiner Approbation als Arzt" - heute als Ärztin. Ich hätte das vergessen, ich wußte nur, daß wir am 6.VI.1985 goldene Hochzeit gehabt hätten. Ihr seht, ich, Jahrgang 1909, hatte nicht mehr die Hürden Eurer Mutter zu überwinden.


Aber meine Patentante E?, Jahrgang 1890, wurde in Deutschland zum Mathematik-Physik-Studium nicht zugelassen und studierte in Zürich, hat aber ihr Staatsexamen in Göttingen in der Fakultät ihres Vaters glänzend bestanden. Als Direktorin eines Gymnasiums in Hildesheim wurde sie von den Nazis gefeuert und war nach 1945 Direktorin in Celle. Ich habe bis zu ihrem Tode sehr nahe Verbindung zu ihr gehabt, besonders zu ihrem Klavierspiel. Ihr 1914 gefallener Mann war Dirigent.


Felix Klein hat sich sehr für das Frauenstudium eingesetzt, ebenso für die Gründung eines Gymnasiums auf naturwissenschaftlicher Basis. Zu seiner Zeit gab es nur humanistische. Meinolf hat das 100jährige Jubiläum des "Felix Klein Gymnasiums", dem ersten auf naturwissenschaftlicher Basis (Realgymnasium), mit gefeiert.