Aus der Familiengeschichte der Hillebrands

Aus Familienalbum
Wechseln zu: Navigation, Suche
[Kapitel 1 - Aus der Familiengeschichte der Hillebrands]


Es war einmal ...

für meine Enkel.


Heute ist der erste November 1986: Allerseelen.
Ich habe Schuberts Messe Es dur gehört. Ich gucke auf die goldenbunten Blätter der Bäume in unserem Garten und auf das dichte Raschellaub auf dem Boden, durch das meine Enkel kurvenreiche Straßen geharkt haben, auf denen sie fröhlich radeln. Ihr Kletterbaum Theodor ist eine Blutbuche und ist noch dicht belaubt. Seine Blätter fallen später als die der grünen Buchen, der Pappeln, Kastanien und Birken.
Ich denke an Rix Mariechen, Eure Urgroßmutter. An Allerseelen - Allerheiligen fuhr sie nach Giesenkirchen, wo sie als einziges Mädchen unter mehreren Brüdern aufgewachsen war. Sie besuchte ihre Familie und zündete Kerzen an auf den Gräbern ihrer Eltern und Verwandten. Wenn sie nach der Ankunft am Kaffeetisch saß, sagte irgendjemand: "Mariechen, lat john". Das heißt leg los, erzähle. Und Mariechen erzählte, was alles so passiert war.
Man sagt, daß sie wieder daheim in Duisburg-Meiderich fünf Tage lang vom zweitägigen Besuch in Giesenkirchen erzählen konnte. Sie war eine fröhliche gesellige Rheinländerin. Als sie jung verheiratet in Odenkirchen wohnte, hat sie sich schwer getan mit Konrad Hillebrand, dem ernsthaften Westfalen, dem Bauernsohn aus Alfen bei Paderborn. Es wird erzählt, daß sie beim Putzen mit ihrem Besen Walzer getanzt hätte. Sie war eine fromme Katholikin, die regelmäßig zur Messe ging. Bei einem Gespräch über die Schwierigkeiten der jungen Menschen, sich der Kirche zugehörig zu fühlen, hörte ich sie aus tiefem Herzen sagen: "Ich glaube an Jesus". Sie war glücklich, daß ihr Sohn Franz Priester geworden war und meinte, er wäre der Größte unter ihren Kindern. Das rief meinen Widerspruch hervor: "Dein Sohn Jupp ist auch etwas Großes geworden". Sie antwortete nicht und blieb sicher bei ihrer Meinung.
Das Bauernhaus in Alfen, in dem Euer Urgroßvater geboren ist, ist im Dreißigjährigen Krieg erbaut worden. Die Jahreszahl über der Haustür beweist es, 1648 war dieser schlimme Krieg zuende. Johann Laurentius Meinolf Hillebrand wurde am 27. Mai 1800 geboren und am selben Tag getauft. In seinen ersten Lebensjahren hat Napoleon ganz Deutschland erobert. Im Rheinbund hatten sich mehrere Länder zusammengeschlossen und wurden Napoleons Verbündete. Westfalen gehörte dazu. Ich glaube, daß ein Bruder Napoleons in Westfalen regierte. Man nannte ihn König Lustik. 1813 war es mit Napoleons Herrlichkeit aus und vorbei. Er wurde in Rußland vernichtend geschlagen. Rußland erfolgreichster Verbündeter war der eiskalte, schneereiche russische Winter. Die Russen verbündeten sich mit den Preußen und verfolgten den fliehenden Napoleon und die Reste seiner geschlagenen Armee.
Die Westfalen waren mit ihrer französischen Besatzung ganz gut zurecht gekommen, hatten aber große Angst vor den Russen. Die Bauern versteckten sich mit ihren Frauen in den Wäldern und nahmen ihr Vieh, ihr Geld und alle Kostbarkeiten mit. Auf den Höfen blieben nur die Alten und die Kinder zurück. Hillebrands bekamen russische Einquartierung, die sie auch verpflegen mußten. Damals gab es keine Teller. Die ganze Familie aß aus einer großen Schüssel, die in der Mitte des Tisches stand. Es gab Sauerkraut als Eintopf. Als Nachtisch stand Dickmilch da. Die russischen Tischgenossen fuhren mit ihrem Löffel vom Sauerkraut in die Dickmilch. Die Sauerkrautfäden hingen in der Dickmilch. Der dreizehnjährige Meinolf ekelte sich und wollte nicht mehr essen. Seine Großmutter sagte: "Iß, Minölverken, nach düsse Tiden kommen annere Tiden". Euer Opa erzählte die Geschichte in westfälischem Platt. Dieser Ausspruch hat sich bis heute erhalten. Es gab seit 1813 genug kritische Zeiten, wo man sich selbst trösten mußte: "Nach düsse Tiden kommen annere Tiden".
Ihr seht: Krieg war zu allen Zeiten, als das Haus in Alfen gebaut wurde, als der erste uns bekannte Meinolf ein Kind war und wie oft danach. "Dona nobis pacem" sang der Chor in Schuberts Messe. Die Bitte um Frieden steht auch heute obenan: Friede in der Familie, Friede mit den Nachbarn, Friede im Innern unserer Heimat zwischen den vielen ideologisch aufgeheizten Parteien und sozialen Schichten. Friede in der Welt.
Da Westfalen mit den Franzosen verbündet war, wurden auch die westfälischen Männer eingezogen. Ein Bauer in Alfen - ich bin nicht sicher, ob es Minölverkens Vater Johann Heinrich Georg Hillebrand geb. 25.III. 1766 war - hatte ganz und gar keine Lust, nach Rußland in den Krieg zu ziehen. Es gelang ihm zu fliehen. Das war Fahnenflucht, die bis heute mit Erschießen bestraft wurde. Die Franzosen suchten vergeblich nach dem Fahnenflüchtigen, dem es gelang, nach Alfen zu entkommen. Er wurde auf dem Heuboden seines eigenen Hauses versteckt. Die Franzosen ließen den Hof versteigern. Es gelang einem Alfener Bauern, der natürlich Bescheid wußte, das Haus, mit dem Flüchtling darin, zu kaufen. Der mutige Mann mußte - gut versorgt - in seinem Versteck ausharren, bis Napoleon besiegt und nach Elba verbannt wurde.
Bei uns in Scheeßel haben die Höfe einen Namen, der erhalten bleibt, auch wenn der Besitzer wechselt: Ramekes Hof, Dittmers, Untervogts usw. Ramekes Fritzi war einer der ersten Patienten bei uns; 1938. Auf die Karteikarte mußte ich Friedrich Brockmann schreiben. Heute hole ich täglich meine Milch bei ihm von Ramekes Hof. Er ist Vater von fünf Söhnen.
In Alfen war das anders. Eure Vorfahren hatten oftmals Nebenberufe und diese gaben Hillebrands jeweils den Namen. Die ersten, von denen wir wissen, hatten einen Backofen, in dem das ganze Dorf Brot backte. Somit hießen sie Kettelboiters (Ofenanzünder). Später kam ein mit Weitsicht begabter Urahn auf den Gedanken, im Winter den Kindern in Alfen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Da hießen Hillebrands Ludimagister. Ich fand einen im Stammbaum: Johannes Hillebrand in Alfen Ludimagister geb. 23. Dezember 1700, am gleichen Tag getauft, gestorben 1. Mai 1750. Ludi ist der Genitiv von ludus - das Spiel. Auf mein Fragen hat mir Lehrer Nüske, unser Nachbar, gesagt, daß durch die lateinische Sprache in den Gottesdiensten, besonders in der Liturgie, lateinische Wörter in die Umgangssprache Eingang gefunden hätten, so wie heute so viele englische Worte und Schlager in unsere Sprache. Ludus? Ich höre Euren Protest. Ihr wollt Eure Schule und Schularbeiten wohl kaum als Spiel bezeichnen, wohl eher als Last. An Fächern, die Eurer Begabung entsprechen, habt Ihr aber Freude, wenn auch die nicht spielerisch zu bewältigen sind.
Es kam die Zeit, wo Alfen eine eigene Kirche bauen konnte, aber nicht das Geld hatte, den Pastoren zu bezahlen. Hillebrands hatten eine Kutsche und mußten den Pastoren jeweils zu Amtshandlungen holen. Da hießen sie Kutschers. Kutschers Konrad war Euer Urgroßvater, und Euer Großvater Kutschers Konrad sin Söhn. Wäre er auf dem Hof geboren, hätte er Kutschers Josef gehießen. Konrad war der zweite Sohn und damit nicht Hoferbe. Er wurde Schäfer und hütete die Herde seines Vaters. Er hatte eine richtige Lehre durchgemacht. Ein Schäfer mußte kranke Tiere behandeln können und sich auf "Geburtshilfe" beim Lammen verstehen. Er fuhr mit einem Schäferkarren und trieb die Herde. Er übernachtete in dem Karren. Morgens saßen oft Krähen und Dohlen auf dem Karrendach. Der Schäfer sprang aus seinem Wagen: "Bautz da stoh ick". Die Vögel flatterten auf. Das soll einmal ein Pastor gehört haben, der zu einem Sterbenden zur letzten Ölung ging. Er vermahnte den Schäfer, er müßte den Morgen mit: "Gelobt sei Jesus Christ" begrüßen. Als der Schäfer als frommer Katholik der Weisung folgte und mit: "Gelobt sei Jesus Christ" aus dem Karren stieg, rührte sich kein Vogel. Da stampfte er mit dem Fuß auf : "Bautz da stoh ick". Und die Vögel flatterten davon.
Kutschers Konrad hat dieses Vertelleken oft erzählt. Ob er es selbst erlebt hat, steht dahin.
Er sollte endgültig auf dem Hof bleiben als Öhm (Onkel). Diese Stellung als Öhm war in den Bauernfamilien durchaus üblich. Der Öhm war ein geachtetes Familienmitglied. Keine Entscheidung über Saat und Ernte, Ankauf und Verkauf von Vieh wurde ohne ihn gefällt. Er saß bei Tisch an der Seite der Bäuerin. Aber er durfte nicht heiraten. Der Hof konnte nicht zwei Familien unterhalten. Dieses war vielleicht nicht der einzige Grund, der in ihm den Entschluß reifen ließ, Lehrer zu werden. Eines Tages eröffnete er seinem Vater diesen Plan: "Wat - Bogenschriewer wullst Du wern?" Er hat ihn vom Hof gejagt. Konrad ging zu Fuß nach Paderborn zu seiner Halbschwester Kathrinchen. Die hatte eine Wohnung innerhalb der Stadtmauer von Paderborn, nahm ihn auf in ein winziges Kämmerchen, von dem aus er auf die andere Seite der Mauer gucken konnte auf Graben und Wall. Josef, der Hoferbe, hatte Verständnis für den Entschluß seines Bruders und half mit ein wenig Geld. Konrad besuchte zuerst die Volksschule in Paderborn, um seine ungeeignete Bildung in Alfens einklassiger Volksschule aufzubessern, und wurde dann in der Präparandie zum Lehrer ausgebildet. Solche Präparandien gab es in meiner Jugendzeit in Verden auch noch. Erst nach dem zweiten Weltkrieg - meines Wissens - wurden die Volksschullehrer auf den Universitäten ausgebildet und reihten sich in den bevorzugten Stand der Akademiker ein.
Konrad Hillebrand war erst Lehrer in Odenkirchen, kam dann nach Duisburg-Meiderich, wo er in den letzten Jahren Rektor einer Volksschule war. Er war ein gütiger, aber auch strenger Lehrer und Vorgesetzter. Er schloß um 8 Uhr die Schultür zu. Lehrern, die zu spät kamen, machte er persönlich die Tür auf und erzog sie damit zur Pünktlichkeit - ohne ein kritisches Wort. Er war ein frommer Katholik und regelmäßiger Kirchgänger. Die Religion war die unumstößliche Basis, auf der seine Pädagogik beruhte. Wenn am Sonntag der Kirchengesang nicht klappte, ließ er in der kommenden Woche die Schule antreten und die Choräle des vergangenen Sonntags üben. Er bejahte auch die Kirche als weltliche Macht, wählte die Zentrumspartei und war ganz schlecht auf Bismarck zu sprechen wegen des Kulturkampfes, der u.a. die standesamtliche Trauung als unerläßlich für die kirchliche gesetzlich verankerte.
1918 haben die Kommunisten ihn verhaften. Durch Meiderich ging es wie ein Lauffeuer: "Sie haben den Ollen geholt". Voraus ging eine Plünderung der Schule, besonders auch seines Dienstzimmers. Das Bild Kaiser Wilhelms II. (mein Vater nannte ihn voller Mißachtung nur W zwei), überließ er ihnen gerne, aber an das Kruzifix ließ er sie nicht ran. Mit Erfolg! Es blieb unbeschädigt hängen. Er mußte mit den Kommunisten durch die Straße zur Haftzelle gehen. Unter ihnen waren auch ehemalige Schüler. Neben ihm gingen Revolutionäre. Er scheuchte sie mit ausgebreiteten Armen zurück: "Mit Euch Dreckskerlen gehe ich nicht in einer Reihe". So ging er an der Spitze souverän voran durch das Spalier von Neugierigen. Vom Ende der Haft wußte Opa nichts. Allzu lange hat sie wohl nicht gedauert.
Als Pensionär wohnte Euer Urgroßvater im Hause seiner Tochter Florentine, die ihm besonders nahe stand. Für Eure Tante Tini war ihr Vater ihr Lebtag der Richtungsweisende. Die Nazizeit hat Kutschers Konrad nur als empörter Zuschauer erlebt. Florentine und ihr Mann waren beide Ärzte. Sie übernahm bei Ausbruch des Hitlerkrieges die Praxis ihres Mannes genau wie ich etwas später auch. Sie war warmherzig und nahm Anteil am Geschick ihrer Patienten. Sie hatte Mut. Sie besuchte auch ihre jüdischen Patienten. Hinter allen Gardinen guckten die Nachbarn, aber anscheinend mit Gefühlen der Hochachtung. Sie ist niemals angezeigt worden. Am Ende des Krieges bekam sie ihr fünftes Kind, die Tochter Elisabeth (Sissa) nach vier Söhnen. Da wurde sie erlöst von den Alarmnächten und Bombenangriffen in Duisburg und zog in das Häuschen, das Suwelacks sich auf dem elterlichen Hof in Pentrup gebaut hatten, und wo ihre vier Jungens unter Obhut ihrer Großeltern schon seit Beginn der Luftangriffe wohnten.
Ich war mehrfach mit meinen drei Kindern dort. Das letzte Mal bin ich beim Umsteigen in Münster in einen Bombenalarm geraten. Meine Kinder erlebten Angst, Panik, dicht gedrängte Menschen im Luftschutzkeller und waren tief erschreckt. Danach habe ich keine weitere Reise nach Pentrup gewagt, auch nicht, als Euer Urgroßvater im Krankenhaus Münster starb an derselben Form des Blasenkrebs wie Euer Großvater auch. Auch Rix Mariechen ist an Magenkrebs gestorben, allein mit ihrer Tochter in Pentrup. Nicht einmal der Pfarrer Franz, ihr über alles geliebter Sohn, konnte kommen, ihr die letzte heilige Ölung zu geben. Seine Pfarre in der Eifel war schon erobert, Westfalen noch nicht. Kutschers Konrad konnte noch nach Duisburg überführt werden. Rix Mariechen liegt neben ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter in Pentrup zur ewigen Ruhe.
Wenn sich der Tod naht, gibt man frommen Katholiken ein Kruzifix in die Hand.

Nächstes Kapitel: Aus Peters Jugend