Aus Peters Jugend

Aus Familienalbum
Wechseln zu: Navigation, Suche
Voriges Kapitel: Aus der Familiengeschichte der Hillebrands


[Kapitel 2: Aus Peters Jugend]


Zurück nach Alfen. Hillebrands verbrachten ihre Sommerferien immer auf dem Hof der Vorfahren. Es waren herrliche erholsame Ferien, die Opa in schönster Erinnerung hatte. Sie fuhren in einem Abteil für Traglasten mit einem großen Schließkorb. Unterwegs gab es Butterbrote. Nur der Vater bekam ein Schnitzel dazu. Wie unvorstellbar ist das heute! Noch in meiner Kindheit war es selbstverständlich, daß der Hausherr besondere Köstlichkeiten vor allem zum Abendessen bekam, von denen nicht einmal seine Frau nahm, von den Kindern ganz zu schweigen. Kutschers Konrad half in Alfen bei der Ernte. Vom gemeinsamen Dreschen wurde mir immer wieder erzählt. Dramatisch war es, wenn die Pferde die schwere Dreschmaschine in einem überdachten Raum zogen und dann zum Halten gebracht werden mußten. Ich vermute, daß die Dreschmaschine angetrieben wurde durch einen Motor oder eine Dampfmaschine. Opa schüttete das Korn in den Trichter der Maschine, schwere Säcke. Es staubte fürchterlich.
In der Mittagspause tobten die Jungens in der klaren Alme. Sie fingen mit der Hand Forellen. Heute gibt es in der Alme keinen Forellen mehr. Die Jungens mußten pünktlich zum Helfen zurück sein. Einmal kam der Vater wütend zur Alme gelaufen, um seinen Jupp zu holen. Er holte gerade aus, um seinem Sohn einen Ohrwatsch zu geben, da hielt der ihm eine Forelle vor die Nase - blitzschnell. Selbstverständlich war Kutschers Konrad streng. Das Jüngsken, das Perleküksken war Mutters Liebling. Vom Vater hat er oft das Jack voll gekriegt. In meinem Elternhaus waren Schläge die große Ausnahme, darum auch viel wirkungsvoller. Heute gibt es keinen Rohrstock mehr. Als sein Vater einmal mit einem Buch auf seinen Sohn zielte, wich der schnell aus, und das Buch sauste durchs Fenster. Vater begriff, daß er in Zukunft den Kürzeren ziehen würde und versuchte nie wieder, sich mit seinem Sohn anzulegen.
Die Jungens in Alfen machten viele dumme Streiche. Wenn der Vetter aus der Stadt da war, kriegten diese Streiche einen besonderen Pfiff. Unter seiner Anleitung haben alle einmal die Alme unterhalb der Brücke gestaut, so daß die Brücke am nächsten Morgen unter Wasser stand. Damals fuhren schon viele jüngere Söhne zur Arbeit nach Paderborn und mußten nun durchs Wasser waten, um zum Bahnhof zu kommen. Das Dorf hatte keinen Zweifel, wer der Anstifter war, und war ganz schön wütend. In solchen Fällen verduftete Jupp und wanderte in ein anderes Dorf, wo auch Verwandte wohnten. In Duisburg wurde Jupp natürlich gezwungen, in die Messe zu gehen. Keiner hat kontrolliert, ob er auch wirklich dort blieb. Niemand merkte, daß er stattdessen im Duisburger Hafen spazierenging. In Alfen ging die ganze Verwandtschaft zur Messe, da konnte Jupp sich nicht drücken. Einmal stand er unter dem Turm und zog sich langsam zurück, um sich auf die Kirchhofsmauer zu setzen. Da unterbrach der Pastor seine Predigt: "Da hat doch Kutschers Konrad sin Söhn es nicht nötig, der Predigt zuzuhören." Wenn Opa das erzählte, rollte er das r, wie er es von Alfen her kannte.
Der ständige Zwang hat sicher schon früh Jupps Protest gegen die Kirche hervorgerufen. In späteren Jahren hat er sich sehr bemüht, dem Katholizismus näher zu kommen. Sein bester Freund Theo Filthaut studierte Theologie, Vetter Ignaz wohnte längere Zeit in Meiderich. Beide waren seine Wanderkameraden. Es wurde viel diskutiert. Beim Reden hat er sich einmal mit Theo Filthaut zusammen im Sauerland verirrt und ist vom rechten Wege abgekommen. Vor dem Abitur hat Opa zweimal an Meditationsübungen im Kloster Maria Laach teilgenommen. Die Anregung und Verbindung dazu kam von Ignaz. Er hatte Gefühl für die Gemeinschaft der Fratres, für die Frömmigkeit und für die Liturgie vor allem bei nächtlichen Andachten, für das Schweigen bei den Mahlzeiten. Oft und lange hat er dem Harmoniumspiel eines Mönches, unter dem Fenster von dessen Zelle sitzend, gelauscht. Die "Gnade des Wortes" hat er nicht erfahren. Ein Glaubenserlebnis wurde ihm nicht zuteil. Für seine eigene ethische Haltung blieben die christlichen Gebote lebenslänglich die sichere Basis. In Freiburg ist er noch in eine katholische Studentenverbindung eingetreten, empfand aber, daß die kirchliche Haltung bei vielen ohne religiösen Inhalt war. Von der Freiburger Zeit an war Karl Wienert sein treuer Freund bis zu Opas Tod. Karls Frömmigkeit war glaubwürdig. Wir haben einmal neben ihm in einer Messe gesessen. Karls Gesicht war verinnerlicht während seine Lippen sich im stillen Gebet bewegten. Karl suchte Zuflucht in der Kirche in schweren Stunden der Verzweiflung. So erzählte er, daß bei der Entführung von Schleyer seine erste Reaktion war, in die Kirche zu flüchten.
Das Fremdsein in der Kirche hat bei Opa dazu geführt, daß er seinen Rufnamen Josef auch an offizieller Stelle ablegte und den Namen seines Paten Peter annahm, ehe er als Arzt approbiert wurde. Wir wurden evangelisch getraut. Die katholische Kirche exkommunizierte ihn. Von der Kanzel herab wurde sein Ausschluß aus der katholischen Kirche verkündet. Seine Eltern waren tief erschüttert. Peter Hillebrand strebte nun danach, sich in einem Ort mit protestantischer Bevölkerung niederzulassen. Ein großes Bild von Maria Laach hing allezeit über seinem Schreibtisch im Sprechzimmer.

Maria laach.jpg


Die westfälische bäuerliche Herkunft hat Euern Großvater geprägt. Er schätzte den oprechten stiefnackigen Dickkopp mehr als den ducknackigen labberigen Nickkopp, den er gründlich verachtete. Er hat mir mit dem Dickkopp tüchtig zu schaffen gemacht. Auf die geschnitzte Fixierung in unserem Sippenschrank hätte ich gut verzichten können. Unsere und Eure Namen sind auf die Innenseite der anderen Tür eingeschnitzt. Die Eiche wurde immer härter, bei Annas Namen hatte der Schnitzer große Schwierigkeiten und hat es nicht mehr akkurat hingekriegt.
Opa hat seinen Großvater in Alfen noch gekannt. Der trug auch bei Tage eine weiße Zipfelmütze, in die ein Steinchen eingeknotet war, mit dem er, wenn er in Zorn geriet, zuschlug. Abends, ehe er schlafen ging, guckte er nach dem Wetter, Haustüren wurden nicht abgeschlossen. Noch im letzten Krieg schlief ich nachts bei weit offenem Fenster im Erdgeschoß. Wenn ein Gewitter drohte, rief der Bauer zur Opkammer auf dem Heuboden hinauf: "Jungs, Böxen torecht leggen." Jupps Böxen lagen immer ordentlich auf dem Hocker. Seine Vettern ließen sie liegen, wie sie rausgestiegen waren. Wenn der erste Blitz niederfuhr, mußten sich alle in der Küche versammeln. Wenn der Blitz einschlagen würde, brannte das strohgedeckte Fachwerkhaus lichterloh. Man hätte die Leiter von der Upkammer nicht mehr herunterklettern können. Was gab es anderes, als am Küchentisch den Rosenkranz zu beten. Es passierte wohl, daß die schwerarbeitende Bäuerin vor Müdigkeit einschlief. Der Vetter aus der Stadt hatte eine Idee: Die Jungen zogen ihre Holzschuhe aus soweit, daß sie gerade noch auf der Großzehe hängen. Wenn die Bäuerin friedlich schnaufte, ließen sie auf Kommando alle ihre Holzschuh fallen. Die Bäuerin fuhr zusammen und begann stotternd: "Gelobet seist Du Jungfrau Maria und gebenedeit sei die Frucht Deines Leibes, Jesus".
Opa war ein unruhiger, wilder Junge, ein Tunichtgut. Er hatte keinen Garten, um sich auszutoben. Die Jungens spielten auf den Straßen und verlassenen Fabrikgeländen. Das war möglich, weil es noch keine Autos gab. Natürlich kloppten sie sich oft. Es gab in Duisburg und in Alfen zwei Banden, die sich bekriegten. Ich brauche kaum zu sagen, daß Opa der Anführer der einen war. Sie hatten auch Namen, die ich aber vergessen habe. Sein Dachkämmerchen war abends sein stilles Plätzchen, wo er bei Kerze oder Petroleumlampe gelesen hat. Sie war nicht heizbar. Er hat Kaninchen gehabt und einen Dackel. Die Hundeliebe war in ihm angelegt. Er wurde streng erzogen, aber auch als Rektors Söhnchen präsentiert. Ich glaube, es war bei Franzens Priesterweihe, wo er im Matrosenanzug ein Gedicht aufsagen sollte. Vorher ging plötzlich die Tür auf und jemand rief: "Mobilmachung. Der lang erwartete Krieg war da. Opa war sieben Jahre alt, sein Vater 47. Er wurde nicht mehr eingezogen. Ich war fünf , und meine Mutter erwartete das vierte Kind. 1939, als der zweite Weltkrieg ausbrach, war Gabriele fünf, und ich erwartete das dritte Kind.
Opa kriegte schon vor seinem Schulbeginn Privatstunde, damit er von Anfang an in der Schule glänzte. Man erreichte nur seinen Protest gegen die Schule. Sein Vater holte ihn sonntags zu sich ins Bett und übte mit ihm Kopfrechnen und war böse, daß sein Sohn widerborstig wurde. Ehrgeiz der Eltern richtet viel Schaden an. Die Kriegsverhältnisse taten ein übriges, wo viele Lehrer eingezogen waren. Opa war ein unlustiger Schüler. Er hat auch in der Schule böse Streiche gemacht. Vor Erreichung der Mittleren Reife wurde sein Vater vor die Wahl gestellt, daß sein Sohn dieses Zeugnis nur bekäme, wenn er damit die Schule verließe, andrenfalls bliebe er sitzen.
Opa hat sehr früh versucht, den bescheidenen häuslichen Lebensstandard aufzubessern - wenigstens für seine eigene Person. Er hat unter Tage Kohle gehauen. Er hat im Bergwerk den passiven Widerstand der Bergleute miterlebt, als die Franzosen das Rheinland besetzten, um zu erzwingen, daß die Deutschen die äußerst harten Reparationsforderungen erfüllten, die der Versailler Friede uns 1918 auferlegte. Die Bergleute fuhren ein und förderten nicht. Das war 1923. Opa war 16 Jahre alt. Auf meine Frage: "Wie konnten Deine Eltern das erlauben?" antwortete er: "Ich tat schon immer, was ich wollte!"
Nächstes Kapitel: Abitur und Studium