Lebensbeschreibung von Peter Hillebrand: Unterschied zwischen den Versionen

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''Vorbemerkung: Diese Lebensbeschreibung ihres Mannes [[Hillebrand,_Peter_(1907_-_1985)|Josef Peter Maria Hillebrand]] zeichnete Elisabeth Hillebrand für ihren Enkel auf. Datierung ist nicht bekannt. Inhaltlich überschneidet sich der Text teilweise mit den [[Es_war_einmal_..._-_Lebenserinnerungen_von_Elisabeth_Hillebrand|Lebenserinnerungen]].''
 
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Version vom 18. Januar 2017, 20:59 Uhr

Elisabeth Hillebrand
Lebensbeschreibung von Peter Hillebrand

Vorbemerkung: Diese Lebensbeschreibung ihres Mannes Josef Peter Maria Hillebrand zeichnete Elisabeth Hillebrand für ihren Enkel auf. Datierung ist nicht bekannt. Inhaltlich überschneidet sich der Text teilweise mit den Lebenserinnerungen.
Bei der Abschrift wurden nur minimale Korrekturen vorgenommen und der besseren Lesbarkeit halber Absätze eingefügt.
Dein Großvater war der Jüngste seiner Geschwister, richtiger gesagt, der Allerjüngste. Seine Geschwister waren im vorigen Jahrhundert geboren, Schwester Tini war zehn Jahre älter als er und Bruder Franz um weitere viele Jahre. Da braucht man sich nicht zu wundern, daß er verwöhnt wurde. Er war seiner Mutter Liebling, ihr Kronensohn, ihr Perleküksken. Sein Vater war ehrgeizig, was seine Zukunft anging. Als er fünf Jahre alt war, sollte seine Mutter ihm Lesen und Schreiben beibringen, damit er sechsjährig gleich in die zweite Klasse konnte. Das Jüppken war voller Widerstand und verzog sich auf die Straße, und Mutter suchte ihn vergeblich. Sein Vater holte ihn am Sonntag morgen in sein Bett und übte mit ihm Kopfrechnen und wunderte sich, daß sein Sohn keine Lust hatte und bockte. Er gab einfach keine Antworten. Der Rektor Konrad Hillebrand hatte wohl keine Ahnung von Psychologie. Jedenfalls war seinem Sohn die Schule von vorneherein gründlich verleidet.
Als Bruder Franz 1914 die Priesterweihe erhielt, sollte der siebenjährige Bruder ein Gedicht hersagen. Er stand da im Matrosenanzug, der damals der übliche Sonntagsanzug für Jungens war. Da riß jemand die Tür auf und schrie: "Mobilmachung; es ist Krieg". Aus der frommen Familienfeier ist nichts geworden. Franz mußte in den Krieg, Vater Hillebrand wohl nicht mehr. Jupp wurde ein fauler, schlechter Schüler, daß die jungen Lehrer alle Soldaten werden mußten, trug seinen Teil dazu bei. Von Karl Wienert, Jupps lebenslangem Freund, heißt es, daß er dreimal in der Sexta (5. Klasse) sitzengeblieben ist. Jupp hat viele Streiche gemacht, auch böse. Er hat einmal alle Birnen aus der Gaslampe seiner Klasse rausgedreht und lange Stöcke in die Fassungen gesteckt. Er ist nachmittags in das Chemielabor gegangen, um die Experimente der Chemiestunde nachzuprüfen. Er ist dabei erwischt worden; er hätte ums Haar die Schule in die Luft gejagt.
Seine Eltern hatten damals eine Mietwohnung in Sichtweite der Volksschule, wo der Vater Rektor war. Jupp hatte ein nicht heizbares Dachkämmerchen, was sein ganzes Glück war. Da konnte er unter der Bettdecke lesen, was ihm verboten war. Einmal ist er aus dem Dachfenster gestiegen, das Dach hinauf geklettert, bis er rittlings auf dem Dachfirst saß und die schöne Aussicht genoß. Plötzlich sah er seinen Vater über den Schulhof angerannt kommen. Die langen Rockschöße des Gehrocks, der Rektors Berufskleidung war, flogen nur so. Der Sohn begriff, daß sein Vater ihn von seiner Schule aus gesehen hatte und kletterte schleunigst wieder runter. Wie er durch das hochgestellte kleine Dachfenster gekommen ist, kann ich mir nicht vorstellen. Ziemlich lebensgefährlich war es wohl. Auf dem Boden gab es eine Kammer mit so schmalem Zugang, daß nur ein Kind hindurch paßte. Da hat er sich bis zum Abend verkrochen. Die Eltern sorgten sich entsetzlich, wohin das Söhnlein aus Angst vor wohlverdienten Prügeln gelaufen sein konnte. Söhnlein hatte richtig gerechnet. Als er abends in der Wohnung erschien, schloß seine tränenüberströmte Mutter ihn in die Arme: " Gott sei Dank, daß Du wieder da bist." Prügel hat er nicht mehr gekriegt.
Was er eigentlich außerhalb der Schule getan hat, weiß ich nicht, gewiß nicht gespielt wie ich mit Geschwistern und Nachbarskindern: Stelzenlaufen, Kreisel schlagen, Reifen über die autofreien Straßen treiben, Ballspielen, Eckenluchsen, Räuber und Gendarm, Dritten abschlagen. In Duisburg waren die Straßen auch autoleer und Höfe von stillgelegten Fabriken. Es gab zwei Jungensbanden, die miteinander kämpften und sich prügelten. Klar, daß Jupp der Anführer der einen Bande war. Sein Vater hörte ihm die Schulaufgaben ab und wurde wütend, wie wenig sein Sohn gemacht hatte. Einmal saßen sie sich gegenüber am Tisch, und Vater warf ihm das Lexikon an den Kopf. Jupp konnte ausweichen, und das Buch schlug durch das Fenster. Vater sah ein, daß der Sohn ihm gewachsen war, und hat nie wieder versucht, ihn körperlich zu züchtigen.
So wie es mit der Schule war, so auch mit der Kirche. Er mußte zur Messe, und die Eltern merkten nicht, daß er sich während der Messezeit im Duisburger Hafen rumtrieb. Er mußte Chorknabe sein. Da konnte er sich nicht drücken. Heiligabend ging man nachts zur Frühmesse, und danach wurde in der Morgendämmerung beschert. Sonntags besuchten die Eltern ein bekanntes Ehepaar. Jupp mußte mit, kriegte einen Haufen Illustrierte, die ihn langweilten. Einmal hat er sich davon gemacht. Er wollte gerne wissen, wie ein W.C. funktioniert. Er ist an der Stange hochgeklettert. wollte in den Klokasten gucken und dann ziehen. Holter, polter lag er mitsamt dem Klokasten und reichlich Wasser im Matrosenanzug auf der Erde. Peinlich, peinlich für seine Eltern!
Mit Abschluß der Untersekunda kriegten wir Gymnasiasten früher das, was heute Mittlere Reife hieß. Damals hieß es das "Einjährige", weil Jungens mit dieser Vorbildung nur ein Jahr in der Reichswehr zu dienen hatten. Als Euer Großvater vor dem Abschluß der Untersekunda stand, ließ der Direktor seinen Kollegen Hillebrand zu ihm kommen. Er sagte ihm, daß sein Sohn ein schlechter Schüler wäre und eigentlich sitzen bleiben müßte, er wäre aber bereit, ihm das Einjährige zu geben, aber nur unter der Bedingung, daß der Vater zusagte, seinen Sohn von der Schule abgehen zu lassen. Und so geschah es.
Viele Jahre später bekam ein gewisser Meinolf Hillebrand einen blauen Brief, daß er in Englisch nicht ausreichend wäre. Sein Vater hat gewaltig laut mit ihm geschimpft, bis ich ihn am Ärmel zupfte und leise sagte: "Und wer ist mit der Mittleren Reife von der Schule geflogen und hat der jemals ein sehr gut in Mathe und Physik gehabt? Und Du regst Dich um eine drohende fünf bei Deinem Sohn auf." Da schwieg er, aber sehr verstimmt, daß ich ihn an sein früheres Schulversagen erinnerte. Ich hingegen konnte es nicht ertragen, daß er wegen einer einzigen möglichen fünf Meinolf so angriff.
Dein Großvater hat dann eine Modelltischlerlehre angefangen, und ich glaube auch bis zum Gesellen abgeschlossen. Das war für ihn und seine von Natur sehr geschickten Hände genau das Richtige. Bei den Modellen kommt es ja auf um Millimeter genaue exakte Arbeit an. Daß sie für Eisenteile gemacht wurden, brauche ich mir nicht vorstellen zu können. Glühendes Eisen und Holz? Die Arbeit hat ihn sehr befriedigt, und er gab gute Modelle zur Überprüfung ab. Seine Kollegen hatten nur eine Kritik, er arbeite zu fleißig und zu rasch und verdürbe den Accord. Während diesen Lehrjahren kam bei ihm das Nachdenken: "Du bist ein Schafskopp, daß Du nicht das Abitur gemacht hast." Tini studierte Medizin. Mit ihr war er auf der Gesolei, der ersten Ausstellung, die Besucher informieren soll, von denen es heute mehr als genug gibt. Die Gesolei informierte über Gesundheit und medizinische Behandlung. Allmählich entstand in ihm der Wunsch, Arzt zu werden. Es versuchte erst, in Abendkursen das Abitur nachzuholen, entschloß sich dann aber, sich für drei Jahre auf die Schulbank zu setzen, und nun war er motiviert. Er hatte guten Kontakt zu seinem Klassenlehrer, der Deutsch unterrichtete. Er hat auch später Verbindung mit ihm gehabt und ihn besucht. Vater Hillebrand wunderte sich, daß er nie mehr in die Schule gerufen wurde, um Klagen über seinen Sohn anzuhören. Aber jetzt ging dieser Sohn freiwillig, um ein Ziel zu erreichen, und nicht mehr unter dem unerträglichen Druck seines Vaters.
1929 hat er dann in Freiburg mit dem Studium angefangen, war in einer katholischen Studentenverbindung, die eine Hütte im Schwarzwald hatte. Über Wochenende hat er Hüttenleben genossen, ist gewandert und im Winter Ski gelaufen. Im dritten Semester ist er dann mit Karl Wienert nach Kiel gegangen. Da hat er die erste Verbindung zu mir gesucht. Er kannte mich schon von Freiburg her.
Das Studium hat ihn zuerst enttäuscht. Bis zum Physikum hat das Studium wenig mit Medizin zu tun und ist theoretisch: Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, Anatomie. Er hatte Schwierigkeiten, und als der Prüfungstermin herankam, war er unsicher und hatte Angst. Er wollte erst nach den Semesterferien das Physikum machen und bat mich, auch so lange zu warten. Dafür bestand für mich nicht der geringste Grund. Ihm zuliebe? Nein und nochmal nein. Die Ferien nach einem bestandenen Examen sind die schönsten. Ich hatte Pläne, sie zu genießen, wollte auf den mecklenburgischen Seen paddeln. Karl Wienert nahm sich seinen Freund vor: "Das Mädchen ist fertig mit dem Lernen. Sie ist ohne jede Angst und sich ihrer Sache sicher. Wie kannst Du nur daran denken, daß sie die Ferien vertrödeln soll." Jupp begleitete mich zum Examenstermin, ich - wie 1931 noch Sitte - im schwarzen Kleid und hochhackigen Pumps. O weh - ich bestand das Examen mit einer glatten Eins. Wie stand er, der sich gedrückt hatte, vor sich selber da! Er hat es dann nach den Ferien gemacht, aber in zwei Fächern nicht bestanden, die er dann nach dem Wintersemester 1931/32 nachholte. Er konnte aber trotzdem mit dem klinischen Semester anfangen.
Ich trennte mich von ihm und ging nach Berlin, er nach Innsbruck, wo er Schneewanderungen und Skilaufen sehr genossen hat. Kurz vor Schluß des Semesters ist er in einer Hütte zusammen mit Kameraden von einer Lawine verschüttet worden. Schaufeln waren da, und es gelang ihnen, durch die Tür einen Gang ins Freie zu schaufeln. Er war aber so erschüttert und durcheinander, daß er Innsbruck sofort verließ und in die flache Ebene flüchtete, in der er aufgewachsen war. Er hat dann das ganze klinische Studium zusammen mit Karl Wienert in Kiel vollendet und mit einem guten Examen und Doktorarbeit beendet. Da erwies es sich, daß der Arztberuf für ihn der richtige war. Das Wissenschaftliche in Verbindung mit der Praxis fiel ihm leicht. Er hatte bei Zwischenprüfungen gute Leistungen. Er gewann Sicherheit und Selbstvertrauen. Da er seinen Namen Josef Peter Maria nie hatte leiden können und den Jupp schon gar nicht, war es ein Leichtes, Peter als Vornamen zu wählen. Staatsexamen, Doktortitel und Approbation lauten alle auf Peter Hillebrand.
Eines muß ich noch erzählen. Damals gab es kein Bafög, sondern für Minderbemittelte nur einen Erlaß der Kolleggelder und Studiengebühren, und die bekam man nur, wenn man sich nach jedem Semester einer Fleißprüfung unterzog. Für seinen Lebensunterhalt mußte jeder selbst sorgen. Jetzt Peter und nicht mehr Jupp verdiente sich das nötige Geld, indem er unter Tage Kohle haute und förderte. Das hat er schon als Schüler getan, um seinen sehr einfachen Lebensunterhalt aufzubessern. Ein Schulrektor konnte sich kein Auto leisten. Ich habe nachgerechnet. 1923 besetzten die Franzosen das Rheinland, weil Deutschland die großen Forderungen aus dem Versailler Frieden nicht aufbringen konnte. Die Bergleute streikten. Sie fuhren ins Bergwerk, aber arbeiteten nicht. Die Franzosen wagten nicht, auch einzufahren und die Männer mit Waffengewalt zur Arbeit zu zwingen. Da war Peter dabei. 1907 geboren, also 16 Jahre alt. Ich fragte: "Erlaubten Deine Eltern das?" Antwort: "Ich tat schon immer, was ich wollte." Die Arbeit unter Tage wurde gut bezahlt. Als die Förderwagen, die früher von Pferden gezogen wurden, die immer unter Tage lebten und blind wurden, auf Elektrizität umgebaut wurden und ebenso die rasendschnellen Aufzüge für Menschen und Kohle, hat Peter elektrische Leitungen unter Tage gelegt, was noch besser bezahlt wurde. Er beschreibt die Stille und Einsamkeit, in der er arbeitete, nur unterbrochen von dem ständigen regelmäßigen Tropfen der Feuchtigkeit dort unten. Peter hat zeitlebens eine von Herzen kommende Sympathie für die Bergleute gehabt, ihre kleinen Häuser, die Ziegen und Tauben, die sie alle hielten.
Am liebsten hätte er immer mit Glück auf gegrüßt.
Nun zurück nach Kiel. In den Jahren, wo wir keine Verbindung miteinander hatten, hat er hin und wieder bei meiner Schwester Eveline nach meinem Ergehen gefragt und mich nicht vergessen. Als er approbierter Arzt war, hat er mir geschrieben, ich möchte zu ihm nach Kiel kommen - zu Besuch. Ich begegnete da einem völlig veränderten Mann, einem Mann, der Achtung verdiente und den ich lieb gewinnen konnte.
Peter arbeitete zunächst einige Monate in der Kinderklinik in Kiel und ging dann als Assistent mit seinem Chirurgieprofessor Beck, der von Kiel nach Hannover versetzt wurde. Prof. Beck war von der Fähigkeit seines neuen Assistenten sehr überzeugt. Kein Wunder, daß Peters ohnehin geschickte Hände einen tüchtigen Chirurgen aus ihm machten. Prof. Beck wurde dann ins Rheinland versetzt und wollte ihn mitnehmen. Das wäre der Weg zum Facharzt für Chirurgie gewesen. Ich war sehr dafür. Wir waren inzwischen verlobt. Ein Assistent verdiente damals 150 DM bei freier Station. Keine soziale Versicherung, Nacht- und Sonntagsdienst wurde nicht zusätzlich bezahlt. Davon hätten wir nicht heiraten können. Gewiß - ich hätte Assistentin bleiben können. Dann hatten wir das Doppelte. Aber die Vorstellung einer berufstätigen Ehefrau war damals völlig absurd, auch bei uns Frauen. Heiraten hieß, Familie zu gründen. Bei einer Schwangerschaft wäre ich gekündigt worden, wie ich von Kolleginnen wußte. Also hat Peter abgelehnt.
Ich war Assistentin im Celler Allgemeinen Krankenhaus, gab die Stelle für Peter frei und ging selber an die kleine Celler Kinderklinik, später ins Gesundheitsamt, dessen Chef kurze Zeit darauf schwer erkrankte, so daß ich stellvertretender Chef wurde. Peter war einziger Assistent. Das Krankenhaus hatte alle Disziplinen: Chirurgie, Innere, Hals-Nasen-Ohren, Haut, Augen. Peter hatte immer Dienst. In unserer Wohnung oben im Hause meiner Eltern hat er nicht schlafen können, weil er fast jede Nacht raus mußte. Aber er rieb sich lachend die Hände: "Ei ei, was lerne ich hier alles." Er strebte jetzt eine Praxis an, die von allen Fachärzten weit entfernt war. Dazu brauchte er noch Erfahrung in der Geburtshilfe. Er hat in Celle ohne jedes Entgeld in der geburtshilflichen Klinik gearbeitet, da keine Planstelle frei war. Der Chef, der von Peters Plan wußte, hat ihn auch einige komplizierte Entbindungen machen lassen, sehr zum Ärger der angestellten Assistenten, daß Peter so bevorzugt wurde. Als ich Meinolf erwartete, wurde ich einige Monate vor seiner Geburt entlassen. Ich mußte sogar die Arbeit als Säuglingsberaterin, die ich bei den Müttern in vielen Dörfern einmal monatlich durchführte, aufgeben. Es schickte sich nicht. Das kann man heute kaum 60 Jahre später wirklich nicht mehr begreifen. Ich habe die letzten drei Monate benutzt, um Schneidern und Nähen in einem Kursus zu lernen.
Damals konnte man sich nicht niederlassen, wo man wollte. Die Zahl der Ärzte berechnete sich nach der Zahl der Einwohner. Als nach Dr. Walbaums Tod die Praxis in Scheeßel ausgeschrieben wurde, war das gerade das Richtige. Die nächste geburtshilfliche Klinik war in Bremen. In Rotenburg gab es nur einen Chirurgen und einen Internisten. Als wir Scheeßel zum ersten Mal besuchten, geriet Peter schon in Deepen in Entzücken beim Anblick des Honigspeichers. Als er vor Walbaums Garten stand und den vielen Bäumen, sagte er: "Hier gehe ich nicht wieder weg." Auf dem Heimweg sang er: "Scheeßel, du bist der schönste Ort der Welt, Scheeßel, du bist der Ort, der mir gefällt." Und ich??!! Keine geistige Anregung, kein Konzert, kein Theater. In Celle war gleichzeitig eine Arztstelle frei. Wieviel lieber wäre ich in der schönen Stadt geblieben. Ich sah mein heutiges Schicksal voraus. Aber Peters vielseitige berufliche Möglichkeiten gaben den Ausschlag für Scheeßel.
Die häusliche Geburtshilfe war der glücklichste Teil unserer Praxis, und Peter meisterte die schwierigsten Geburten. Wie man zu Hause geboren wurde, so starb man auch zu Hause. Wir hatten drei Generationen in einem Haus in Behandlung, und ins Krankenhaus ging man nur, wenn der Hausarzt es für nötig hielt. Wir hatten sogar sonntags vor und nach dem Gottesdienst Sprechstunde.
Unsere Praxis hatte bald einen guten Ruf, in erster Linie wohl wegen Peters erfolgreicher Geburtshilfe. Unser Kollege Rotermund bat ihn um Hilfe bei Geburten, zu denen er in seiner eigenen Praxis gerufen wurde. Rotermund begnügte sich dann mit der Narkose und überließ dem jüngeren Kollegen, dessen Fähigkeiten er am besten beurteilen konnte, die Entbindung. Solche Kollegialität ist heute nicht vorstellbar, wo die Ärzte sich schon im Urlaub einen fremden Arzt zur Vertretung holen und sich nicht von den Ärzten am Ort vertreten lassen. Aus Kollegen sind Konkurrenten geworden.
Peters zweites Plus war die "Kleine Chirurgie", das heißt die Behandlung von Verletzungen und Abzessen, das sind große Furunkel, die aufgeschnitten werden müssen. In der Landwirtschaft wurde noch mehr mit den Händen gearbeitet als mit Maschinen, Korn und Gras wurde mit der Sense gemäht, und es passierte beim Torfstechen immer wieder, daß die scharfe Schaufel den Fuß traf. Gegen all diese Erfolge konnte Pastor Heintze nicht an, der zu Walbaums Patienten ging: "Geht nicht zu dem neuen Arzt. Der ist ein Katholik." Eines aber beeinträchtigte Peters Praxis. Er war korrekt und nicht gefällig. Wenn er einen Patienten für gesund hielt, schrieb er ihn arbeitsfähig, auch wenn der Patient noch eine Zeit faulenzen wollte. Eine Bauersfrau hat uns das bestätigt, deren Knecht sich nach der Krankenhausentlassung bei uns nicht mehr zeigte. Die Bäuerin sagte, andere Arbeitnehmer hätten geraten, den Arzt zu wechseln, einen aufzusuchen, der so lange arbeitsunfähig schrieb, wie der Patient es wünschte. Ein Wort darf ich über mich verlieren. Bei Geburtshilfe und Chirurgie hatte er immer meine sachverständige Hilfe für Assistenz und Narkose.
Dieser glückliche Beginn hatte nach einem Jahr oder nach einigen Monaten mehr ein plötzliches Ende. Hitler überfiel Polen. Der zweite Weltkrieg war da. Peter ging für sieben Jahre fort. Danach wurde alles anders. Alle Facharztdisziplinen kamen nach Rotenburg. Das Krankenhaus bekam eine geburtshilfliche Station und unsere Praxis verlor all die ärztlichen speziellen Tätigkeiten, die Peter nach Scheeßel gelockt hatten. Peter war kein Militarist und war erbittert über den Kriegsausbruch, den Hitler seit Jahren vorbereitet hatte. Zuerst bekam er den Befehl, die Praxis in Scheeßel und größeren Außenbezirken weiterhin auszuüben. Er freute sich, und ich war glückselig, daß er bei uns blieb. Ich erwartete 1939 Christoph und lag mit einer schweren Nierenbeckenentzündung. Da kam er nach gar nicht langer Zeit mit strahlendem Gesicht und hatte einen Zettel in der Hand. Das war der Gestellungsbefehl für den Krieg. Ich erschrak zutiefst. Die Frage ließ mir keine Ruh. Er war doch ein Kriegsgegner, verabscheute Hitler aufs Tiefste und nun diese strahlende Freude? Steckt von jeher die Lust zum Abenteuer, ein gewisses Maß an Streitlust in jedem Mann? Ich dachte an die Bandenprügeleien seiner Schülerzeit. Ich stellte keine Fragen. Da handelte es sich um Instinkte, derer man sich nicht bewußt ist.
Und die Jugend heute. Die Terroristen weltweit? Ist die männliche Jugend wirklich friedensliebend. Seid Ihr nicht mehr die kriegerischen Militaristen, als die wir Deutschen verschrien waren?
Nach kurzer Zeit in einem Lazarett in Lübeck wurde Peter wenige Tage nach Christophs Geburt nach Polen kommandiert als Truppenarzt bei einer Nachschubabteilung, bei der er in Frankreich und im Rommelfeldzug blieb. Das war keineswegs ungefährlich. Der Nachschub wurde besonders von Tieffliegern angegriffen, und der Arzt mußte mit seinem Lazarettwagen die Truppe begleiten. Besonders gefährdet war die Via Balbo entlang der Küste von Afrika, die in der Wüste keinerlei Schutz bot.
In Polen hat er mit Entsetzen das verwüstete jüdische Ghetto gesehen. Aus Frankreich gibt es ein Photo: Eine Mutter hat ihr Baby auf dem Schoß, die beiden größeren Kinder links und rechts gucken zärtlich auf das kleine Geschwisterchen. Der deutsche Stabsarzt in Uniform steht hinter der Gruppe und beugt sich zu dem Neugeborenen, dem er ans Licht dieser bösen Welt geholfen hat. Arzt, Hebamme, Soldaten waren geflohen. Die Mutter war allein in ihrer Not. Peter hat davon gehört und hat ihr geholfen. Zum Dank hat die Französin dieses Photo machen lassen. Peter war überzeugt, daß die Franzosen diesen Krieg nicht erwartet hatten. Sie fühlten sich sicher hinter der Maginot-Linie. Überall in den Orten, wo er in Quartier war, waren Soldaten geflohen. Die Gewehre standen oft aufrecht in Gruppen beieinander. Hitler hatte die Neutralität von Holland und Belgien verletzt und griff von rückwärts die Maginot-Linie an. Das hat Panik ausgelöst. Das war die Voraussetzung, daß der Gröfaz (größter Feldherr aller Zeiten) die Franzosen so schnell besiegte.
Von Afrika hat Peter am meisten erzählt. Er fühlte sich heimisch in der Weite der Wüste und dem rieselnden Sand, ja selbst bei den gefürchteten Sandstürmen. Er fühlte sich wie bei der Schöpfungsgeschichte: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag über der Tiefe. Aber viele Soldaten überkam tiefe Depression. Ich weiß von einem jungen Soldaten, der direkt von der Grundausbildung nach Afrika kam. Er hat seinen Kameraden während seines letzten schweren Leidens hier oft besucht und mir viel erzählt. Er sagte, er wäre mit der Einsamkeit der Wüste nicht fertig geworden, hätte jede Haltung und die klare Besinnung verloren. Aber Peter hätte eine solche Ruhe und Gelassenheit ausgestrahlt, daß er ihm ein Halt, der einzige Halt gewesen wäre. Schlimm wäre auch der Beschuß der Artillerie vom Mittelmeer her bei Nacht gewesen. Die Einschläge wären in regelmäßigen Abständen erfolgt und immer tiefer in die Wüste vorgedrungen. Sie hätten die Soldaten um den Schlaf gebracht. Christian Iwert erzählte von dreien, die als psychisch zerstört angesehen werden mußten. Ihr Truppenarzt hat ihnen ein Zelt im Lager zugewiesen: "Legt Euch, versucht zu schlafen. Ich halte die ganze Nacht Wache. Ich wecke Euch, wenn Gefahr droht." Die drei haben tief und fest geschlafen, und damit war viel gewonnen. Die Artillerie war auch so lieb und schwieg in der Nacht. Peter hat sich dann mit dem Oberkommando in Verbindung gesetzt und hat erreicht, daß das Lager in einen Gebirgszug an der Küste verlegt wurde. Ich glaube es war in Libyen. Am nächsten Tag sollten von dem bisherigen Platz noch liegengebliebene Sachen geholt werden. Da fand man nur noch den Krater eines Bombentreffers.
Ich schreibe, damit Du Deinen Großvater kennenlernst, jetzt wo Du erwachsen bist. Darf ich Gutes erzählen? Er hat einmal englische Gefangene begleiten müssen, unter denen viele Verwundete waren. Die wollten unterwegs Tea-Time halten. Warum nicht! Darüber hat Peter den Anschluß an seine Truppe verloren. Sie fuhren nach Kompaß durch die Wüste. Er hat sich mit seinem Fahrer besprochen, und die beiden haben die Gefangenen zurück in die englische Linie fahren lassen. Dem begleitenden englischen Arzt verschlug es die Sprache. Bei der eigenen Truppe wieder angelangt erzählte er, die Engländer hätten Waffen versteckt gehabt und sie angegriffen. Da hätten sie nachgeben müssen. Ob man es ihnen geglaubt hat? Jedenfalls kamen sie vor kein Kriegsgericht. Das hätte ihnen den Tod bedeutet.
Von den Arabern muß ich auch noch erzählen. Die standen auf Seiten der Deutschen, wünschten unseren Sieg, um die englische Mandatsherrschaft los zu werden und selbständige Staaten zu werden. Peter hatte regelmäßig arabische Sprechstunde in den ersten Monaten, wo sie in Tunis lagerten in der Nähe von Hafen und Flugplatz, die den Nachschub brachten. Er hat auch Hausbesuche gemacht und die arabischen Frauen im Hemd abhorchen müssen. Schließlich wurde er sogar zum festlichen Kus-Kus-Essen eingeladen und konnte bei den wilden Reiterspielen der Araber zugucken. Die Reiter trugen dabei feste, weißwollene Umhänge, die weit wehten. Sie hießen Barakane, und eine solche kriegte Peter geschenkt und brachte sie im letzten Urlaub mit. Er war richtig böse, als er sie 1946 bei mir nicht mehr vorfand. Ich hatte drei Rucksäcke für meine Kinder daraus genäht. In jedem war einmal komplette Garderobe. Sie standen an der Tür zum Garten neben meinem großen Wandervogelrucksack. Wir schliefen im großen Wohnzimmer, das zwei Türen hatte. Im Fall eines Treffers sollte jedes Kind seinen Rucksack greifen und im Nachthemd rauslaufen.
Du weißt, wie siegreich Rommel war und von der langen Belagerung, bis Tobruk fiel. Die Ägypter erwarteten den deutschen Einmarsch voller Hoffnung. Da schickte Amerika jede Menge Waffen und Flugzeuge, so daß England die Lufthoheit erlangte. Da war kein Widerstand möglich, schon gar nicht in der Wüste. Rommel mußte zurück, Tobruk ging kampflos verloren. Peter war im Urlaub hier, wartete auf den Einmarsch in Ägypten und hörte diese Nachrichten. Der Rommelfeldzug mußte als verloren gesehen werden. Er wollte das Ende mit seinen Kameraden teilen und als Arzt seine Soldaten nicht im Stich lassen. Er entschloß sich, seinen Urlaub abzubrechen. Der Zug nach Italien fuhr abends und hatte viel Verspätung. Wir gingen auf dem verdunkelten Bahnhof schweigend auf und ab. Jeder wußte, daß es ein Abschied für Jahre war und die Zukunft undurchschaubar. Dann ging ich durch das menschenleere dunkle Scheeßel zu meinen schlafenden Kindern. Peter erreichte mit einem Nachschubflugzeug seine Abteilung. Er wurde stürmisch begrüßt. Keiner hatte für möglich gehalten, daß er in diese verzweifelte militärische Situation zurückkehrte. Er fuhr mit seinem Lazarettwagen vor seinen Leuten in Gefangenschaft und lieferte alle leergeschossenen Waffen ab.
Die Kriegsgefangenschaft war für Peter das große Los. Er war immer Chefarzt in Kriegsgefangenenlazaretten. Auch die POW [prisoner of war] von der Invasionsfront in der Normandie wurden nach Amerika geschickt. Er hat in Chirurgie und Orthopädie sehr viel Erfahrung gesammelt. Es stand ihm alles zur Verfügung, was ein Lazarett braucht. Er hatte gute, menschlich gebildete Amerikaner zu Vorgesetzten, mit denen er regelmäßige Chefvisite machte und hinterher ein Kolloquium von gleich zu gleich hatte. Der leitende amerikanische Offizier, der die vielen POW Lager zu kontrollieren hatte, nahm ihn manchmal mit, um die hygienischen Zustände zu prüfen. Er hatte wohl eine gute Personalakte. Sein Organisationstalent wurde besonders hervorgehoben. Ich weiß zwei Beispiele. Einmal eine schwere Grippe-Epidemie, wo er in den befallenen Lagern eingesetzt wurde. Für die leichteren Kranken stellte er einen Behandlungsplan auf und übergab sie der Fürsorge seiner Sanitäter, er selbst übernahm die Behandlung der Schwerkranken. Soweit ich weiß, ist die Grippewelle ohne Todesfälle beherrscht worden. Das andere war eine große Zahl von Vergifteten. Man hatte Kartoffelsalat in Zinkwannen draußen bei großer Hitze stehen lassen. Das darf keinesfalls sein. Da war die Lösung der hygienischen Probleme im Vordergrund. Massenhaft Durchfälle und Erbrechen. Nur eines hat er in Amerika nicht gelernt. Das Wort Sparen gab es nicht.
Um so schlimmer war der Schock bei der Heimkehr 1946. Fehlende Medikamente, fehlender Verbandsstoff. Gebrauchte Mullbinden wurden ausgekocht und wieder aufgewickelt. Sauerkraut und Kartoffeln ohne Fleisch. Stundenlange Stromsperren. Im Hause wuselte es von fremden Gesichtern. 24 Flüchtlinge oder Ausgebombte. Als er ankam, zwei Jungens 6 und 9 Jahre, die er vier Jahre nicht gesehen hatte. Vater und Söhne standen sich befangen gegenüber. Bei Frau Wilhelmi sprang Amei aus dem Fenster und fiel ihm um den Hals. (Frau Wilhelmis hübsches Haus hat Klaus Dieters Neubauten weichen müssen.) Als ich von Wohlsdorf nach Westerholz radelte, stand Frau Wagner an der Mühle: "Er ist da." Ich regenwetterfest in Langschäftern, die ich aus meines Vaters Reitstiefeln hatte machen lassen, ein langer Lodenmantel, eine dunkelblaue warme Kapuze. Seine Augen waren sicher enttäuscht. Ich mußte nachmittags noch den Besuch in Westerholz machen. Ich spendierte mir Rißmanns Wagen. Peter saß hinten und mußte zusehen, wie ich statt er selbst zu dem Kranken ging. Dann bekam ich 14 Tage Ferien. Rotermund hatte sich dazu erboten, wohl ahnend, wie schwierig es war, nach sieben Jahren Trennung eine Ehe neu zu beginnen. Peter war gewohnt, daß alle seine Anordnung befolgt wurden.
Die Probleme waren überall. Weizsäcker hat sie in seiner Rede 1985 angesprochen. In zwei Weltkriegen haben die Frauen in Männerberufen arbeiten müssen. Darüber waren sie selbstbewußt geworden und gewohnt, selbständig zu entscheiden. Sie lernten es nicht wieder, ihren Männern untertan zu sein.
Ich wollte nicht nur Peters Biographie schreiben. Ich wollte seine Entwicklung verständlich machen. Es wäre mir lieb, wenn ich den richtigen Ton getroffen hätte.