Erinnerungen von Rosemarie Eisenberg

Aus Familienalbum
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Rosemarie Eisenberg


Erinnerungen an Eberhard Hagemann


Erinnerungen an unseren Vater
Wo fangen meine Erinnerungen an Vater an? Vielleicht sehe ich da als erstes unser Wohnzimmer, Mutter's Zimmer in unserem Haus am Holzmarkt in Verden vor mir und denke an die Sonntage, wenn wir nachmittags zusammen saßen und sangen: Mutter am Klavier, die anderen Geschwister standen um sie herum und sangen Volkslieder, ich saß auf Vater's Schoß im gelben Sessel, der neben Mutters Nähtisch stand. Eine Zeit lang war es auch mein Vorrecht, nach dem Essen rittlings auf ihm zu sitzen, wenn er sich schon zum Mittagsschlaf auf die Chaise gelegt hatte. Eigentlich hatte die Zeitung dann das Vorrecht, aber vorher war ich noch eine Zeit lang da, und er hatte Spaß daran, seinen dicken Bauch sozusagen "aufzublähen" und mich damit in die Höhe zu heben: auf und ab - auf und ab. Ich denke gerne an unsere abendlichen Spaziergänge in den Garten, wenn er sich interessierte für das, was da wuchs und blühte und wir manchen Abend auch noch in den anderen Garten an der Bahnhofstraße gingen, über die Marienstraße, dann den schmalen Gang runter zu unserem Garten, in dem ich auch mein eigenes Blumenbeet hatte. Auch hier zeigte ihm Mutter die vielen Sorten von Gemüse, die für unsere große Familie angepflanzt und ausgesät waren: die Spargelbeete gleich vorne rechts im Garten, die langen Reihen Erdbeeren und all das andere Gemüse, nicht zu vergessen der Kohl, von dem wir die Raupen absuchen mußten und für 100 Raupen in einer Blechbüchse 10 Pfennig bekamen - genauso, wie für 1 Stunde Unkraut jäten. Vor der Domweih haben wir das, jedenfalls ich, gerne getan, 10 Pfennig für eine Stunde, das bedeutete, einmal Karussell fahren!
Ich erinnere mich daran, wie Vater und ich eine Zeit lang viel zusammen an die Aller zum Baden fuhren . Wir gingen die Aller stromaufwärts, etwa bis zur Moje'schen Fähre oder auch noch ein wenig weiter. Dann schwammen wir gemeinsam zurück und Vater hatte viel Spaß daran, unter mir wegzuschwimmen, und ich wartete mit einem Gemisch von Ängstlichkeit und Wonne auf diese Augenblicke, wenn dieser große Mann plötzlich unter mir schwamm und kurz vor mir wieder auftauchte. Ich denke auch an die Mahlzeiten, da war es wohl vor allem das Abendbrot, bei dem Vater sich Zeit nahm. Der Stuhl wurde ein wenig zurückgerückt und er hatte Zeit, mit uns zu erzählen, dabei saß ich manches Mal auf Mutter's Schoß: "wule, wule Häschen". Aber wenn auf diese Weise die Mahlzeiten zu lange dauerten, sagte Mutter mahnend: Vater, die Mädchen! Das hieß: laß uns aufstehen, die Mädchen müssen noch abwaschen. Natürlich hatte Mutter Recht, aber mir tat es manchmal leid: wir sahen Vater in der Woche selten und mir sind diese ausgedehnten Mahlzeiten in so guter Erinnerung.
Zu den Sonntagen gehören auch unsere Ausflüge mit dem alten Brennabor und Herrn Kaiser als Chauffeur. Wir fuhren nach Hollenbeck bei Stade, um zu sehen, wie weit der im Enstehen begriffene geschnitzte Schrank war, oder wir fuhren ganz einfach nach draußen irgendwohin, wo es hübsch war. Blieben wir den ganzen Tag weg, wurde das Mittagessen mitgenommen: Kartoffelsalat und Eier und Brote. Wir waren, wenn alle da waren, acht Personen im Auto: vorne Vater und der Chauffeur, dann auf den Notsitzen , über die ein Brett gelegt war, saßen Rudolf und ich und eine von den drei Großen, auf den hinteren Sitzen Mutter mit den beiden anderen Schwestern.
Vater erzog uns sehr sparsam: Vom Taschengeld Süßigkeiten zu kaufen, war streng verboten - das hat sich mir so eingeprägt, daß ich es bis heute noch nicht tue! - Aber einmal haben Rudolf und ich uns Würfelzucker gekauft und gingen damit auf dem Wall entlang. Da kam Vater vom Gericht und sah uns. Rudolf versuchte, den Zucker hinten auf dem Rücken zu verstecken, was ihm natürlich nicht unbemerkt gelang. Wie Vater reagierte, weiß ich nicht mehr genau, ich erinnere nur, daß wir beide ein sehr schlechtes Gewissen hatten. Zu dieser sparsamen Erziehung gehörte aber auch, daß wir sehr früh Taschengeld bekamen - nicht, um damit zu machen, was wir wollten, sondern, um davon Schulsachen und andere notwendige Kleinigkeiten zu kaufen. Am Ende des Monats mußten wir das Anschreibebuch vorlegen und genau zeigen, wofür wir das Geld ausgegeben hatten. Auch Mutter mußte ja durch Jahre hindurch jeden Pfennig anschreiben, und ich sehe noch die großen Anschreibbücher vor mir und sie davor sitzen und rechnen und schreiben. Schon sehr früh - ich glaube, ich war damals etwa 15 oder 16 Jahre - bekam ich sogenanntes Kleidergeld und mußte davon alles selber kaufen! Wäsche, Kleider, Schuhe, Mäntel u.s.w. Ich weiß noch genau, daß ich damals 60.- M. bekam, das war, glaub ich, nicht wenig. Auch hierüber mußte Buch geführt werden. So wurden wir früh dazu erzogen, mit Geld umgehen zu können, und wenn ich heute zu denen gehöre, die sparsam sein können, habe ich das sicher hierdurch gelernt. Für gute Arbeiten, die wir in der Schule schrieben, gab es nie eine Belohnung. Als ich Vater einmal fragte, warum wir nichts dafür bekämen, so wie andere Kinder, sagte er nur: gute Arbeiten sind selbstverständlich So war dann auch das Stück Torte, das wir bekamen, wenn wir im Zeugnis in allen Fächern außer in Turnen, Singen und Zeichnen (die drei Fächer, in denen Vater es sicher auch nie zu einer guten Zensur gebracht hat!) eine Zwei hatten, etwas Besonderes und ich weiß noch, mit welchem Hochgefühl ich zu Kaffee Seiffert ging, um mir mein Stück Torte zu holen . In der Grundschule habe ich es immer bekommen, wohl auch noch die ersten Jahre im Lyzeum, dann war's aus damit. Aber schließlich gehörte ich ja mit Tüschen und Rudolf zusammen auch zu Vater's "dummen Kindern". Er hat es oft gesagt, daß er zwei kluge und drei dumme Kinder hätte. Ich glaube, es hat uns drei Dumme zeitweise mehr belastet, als wohl gut war. Wenn es uns bis heute noch so eindrücklich ist, merke ich, daß es tiefer traf, als Vater geahnt und beabsichtigt hat.
Zur Sparsamkeit in unserem Haus gehörte es wohl auch, daß unsere Sachen - Kleider und Wäsche - immer von guter Qualität waren und nie kaputt gingen, so daß wir selten etwas Neues bekamen. Ich hatte dazu noch den Ärger, oft etwas von den drei Großen zu erben und aufzutragen. Ich weiß noch, wie Mutter einmal zu mir sagte: bei dir gehen immer die Sachen kaputt, die drei Großen haben doch immer heile Sachen . Nun - als Vierte durfte es wohl auch mal kaputt gehen, denke ich heute. Aber meine braune Bleyle-Jacke - so gar nicht von mir geliebt - mußte ich Jahr für Jahr tragen und sie war noch immer heil! Ich hab Vater einmal gefragt, ob wir eigentlich arme Leute wären, er guckte mich verdutzt an, wie ich denn zu dieser Frage käme. Meine Antwort: Andere Kinder in meiner Klasse kriegen viel öfter ein neues Kleid, ich muß immer dieselben Sachen tragen! Ich weiß nicht mehr genau, was Vater geantwortet hat, aber dem Sinne nach eben dies, daß es gut sei, sparsam zu leben und mit Geld umgehen zu können. Wie gut das ist, das weiß ich heute allerdings sehr genau! Großzügig im Blick auf Geld war Vater zu Weihnachten, zur Domweih und wenn wir reisen wollten. Zu Weihnachten bekamen wir Geschenke im Wert von 50.- M. - das war damals bestimmt sehr viel, zur Domweih gab es 5.- und wenn wir reisen wollten, weiß ich keine Summe, weiß nur, daß wir dann immer genug hatten. Und wir bekamen zu Weihnachten und zum Geburtstag keine praktischen Sachen, oder jedenfalls nur ganz selten, sondern dann eben wirkliche Geschenke zum Freuen. Zu Weihnachten auf dem "süßen Teller" eine Apfelsine, eine Tafel Schokolade - was war das für eine Wonne! und dann die vielen Sorten von Weihnachtsplätzchen, die Mutter buk. Unsere Geschenktische waren immer schön und liebevoll aufgebaut, ich glaube, daß Vater die Geschenke ordnete, wenn Mutter alles hingelegt hatte. Und jeden Mittag gab es ein "Stück vom Wiehneboom" - niemand von uns wäre auf den Gedanken gekommen, heimlich außerhalb der gesetzten Zeiten alleine ein Stück davon zu nehmen. Gab es abends auch ein Stück? Ich glaube es fast. Mittags gab es dann immer noch den Inhalt einer Tüte mit Kaffeebohnen und Schuhsohlen. Vater schüttete sich den Inhalt der Tüte in eine Hand und verteilte an seine um ihn herum stehende Familie - schön gerecht, und wenn es eine halbe Schuhsohle war, die jeder noch dazu bekam!
In jeder Hinsicht hat Vater uns früh zur Selbständigkeit erzogen. Ich durfte - zum Entsetzen anderer Eltern - schon während der Schulzeit zusammen mit Alice Groß eine vierwöchige Radtour machen. Wir fuhren bis Marburg mit dem Zug - da studierten damals wohl Bertchen und Evchen, dann von dort aus die Lahn herunter in die Eifel, Rhein-aufwärts, über Miltenberg, Amorbach bis herunter nach Würzburg - alles mit dem Rad wir zwei Mädchen allein. Wir mußten nur jeden Tag eine Karte nach Hause schreiben, daß es uns gut ging. Aber diese große Radfahrt ist mir bis heute in schöner Erinnerung. Auch an die Fahrt mit Tüschen zusammen ins Baltikum, die wir vom V.D.A. aus machten, denke ich gern, es war im Jahr 1933, und ich weiß noch, wie Vater uns vorher einiges sagte, wie wir uns zu verhalten hätten im Blick auf Fragen das 3. Reich betreffend, daß wir möglichst wenig dazu sagen sollten und: "vergeßt nicht, daß ihr Deutsche seid". Dann denke ich an die Rom-Reise, die er mit Evchen und mir machte: 3 Wochen Rom! Und wir hatten in Vater einen Führer, wie es bestimmt keinen besseren gab, denn er kannte und liebte Rom von vielen Reisen her. Unvergeßliche Eindrücke und Erlebnisse dieser Reise.
Zur Erziehung zur Selbständigkeit gehört für mich wohl auch dieses, daß ich - die drei Großen waren wohl schon nicht mehr zu Hause und Rudolf in Spetzgart - manches Mal am Sonntag abends alleine im Hause war. Ich hatte Angst, ich weiß es noch genau. Aber trotzdem ließen mich die Eltern allein im Haus, zu meinem Schutz unten im Flur nur Harras, vor dem ich genau so viel Angst hatte! Ich habe immer versucht, schon im Bett zu sein, wenn die Eltern weggingen, und mir die Decke über die Ohren gezogen, um nicht zu hören, wenn sie aus dem Hause gingen, und habe manches Mal bange gelauscht, ob irgendwelche verdächtigen Geräusche zu hören waren, hab auch am Fenster gestanden, und geguckt, was draußen zu hören oder zu sehen war - bis ich dann wohl doch eingeschlafen bin. In noch früheren Jahren, als Rudolf und ich noch zusammen im Kinderzimmer schliefen, wurden diese Ängste respektiert: es war wohl die Zeit nach dem schlimmem Mord in der Baer'schen Familie, wovon wir sicher mehr gehört hatten, als wir sollten, Jedenfalls hatten Rudolf und ich oft Angst. Dazu gehörte auch, daß Großmutter Hagemann uns von bösen Menschen erzählt hatte, die sich unter Bett und Schrank versteckten, bis man selber im Bett lag. Wie lange haben wir beiden Kleinen jeden Abend unter unsere Betten und unter den großen Kleiderschrank geguckt, ob da wohl jemand läge. Und dann wachte ich manchmal nachts auf und Rudolf war nicht da - ich wußte, er war zu Vater und Mutter gegangen. Dann stand auch ich auf, voller Ängste - denn ich mußte zum Elternschlafzimmer ja am Treppenhaus vorbei und da könnte doch grade ein böser Mensch die Treppe raufkommen. Aber allein im Zimmer bleiben ohne meinen großen Bruder, das wäre noch schlimmer gewesen. Also machte auch ich mich auf den Weg in die Geborgenheit des elterlichen Schlafzimmers, wo ich Rudolf dann schon vorfand. Ich durfte dann auch mit in die Betten von Vater und Mutter kriechen, wir blieben dort eine Zeit lang, bis wir zurückgeschickt wurden. Aber wir wurden nie zurückgeschickt, ohne daß wir erst bei Vater und Mutter im Bett liegen und unsere Ängste vergessen konnten.
Was Vater wollte, dem hatten wir uns zu fügen. War er autoritär? Ich würde sagen, er war für uns eine unantastbare Autorität, und heute weiß ich, wie stark mich diese gute Autorität geprägt hat. Ich glaube, daß wir wohl unseren eigenen Willen haben konnten - aber eben nur da, wo er diesen Willen nicht für unvernünftig hielt. Ich weiß noch, wie ich keine Lust mehr hatte, zur Schule zu gehen, zu Vater hinging und ihm sagte, ich wolle ja doch nicht studieren, ich möchte gerne mit der Mittleren Reife von der Schule abgehen. Da gab es nun allerdings kein Gespräch, sondern nur den einen Satz: "Du bleibst auf der Schule, ich will jetzt arbeiten, da ist die Tür!" Und ich fügte mich und dachte nicht daran, zu widersprechen und habe wohl auch nicht gewagt, innerlich zu rebellieren. Genau so erging es mir, als ich mir gerne die Haare abschneiden lassen wollte und versuchte, Vater zu erklären, daß in meiner Klasse viele Mädchen mit kurzen Haaren seien. Wenn ich mich recht besinne, war seine einzige Antwort: "meine Tochter nicht!" - Wenn ich an Vater denke, weiß ich, daß er immer arbeitete und wir ihn nicht dabei stören. durften, wenn er im Büro war. Aber trotzdem: er gehört zu meiner Kindheit dazu, und er war doch auch oft mit uns zusammen - da sehe ich ihn wieder mit uns durch den Garten gehen - eigentlich immer eine Tochter neben sich, die er mit seiner Hand am Oberarm hielt. Wir durften auch "frech" sein, was man damals so frech nannte. Dann konnte es passieren, daß er mit einer unvergeßlichen Gebärde uns den Arm umdrehte, bis wir schon von alleine nachgaben und taten, was er wollte.
Ja, und dann zogen wir 1931 nach Hannover und damit war die so glückliche und gänzlich unbeschwerte Kinderzeit für mich vorüber. Ich wurde damals 14 Jahre alt. Es kam das Jahr 1933 und die ersten schweren Auseinandersetzungen mit der Partei und dem Nationalsozialismus. Ich weiß, daß ich in mancherlei Hinsicht auch wohl begeistert sein wollte, aber weil ich merkte, wie Vater unter allem litt, blieb auch ich "auf Abstand". Beurteilen konnte ich mit meinen 16 Jahren doch das alles noch nicht. Aber unter dem Einfluß des Elternhauses war ich es dann auch, die als einzige mit einer Halbjüdin zusammen in der Klasse beim Absingen des Deutschland- und des Horst-Wessel-Liedes nicht den Arm "zum deutschen Gruß" erhob. Aber es kam dann der Tag, an dem wir es alle mußten. Es kam jener Tag, an dem auch auf dem Ständehaus, Vater's Amtssitz, die Hakenkreuzflagge gehißt wurde und alle Beamten und Mitarbeiter der Provinzialverwaltung sich vor'm Ständehaus versammeln mußten, und den Arm zum deutschen Gruß erheben mußten, als die Flagge hochgezogen wurde. Ich stand auf dem flachen Dach unseres Hauses und konnte von dort aus alles beobachten, sah meinen Vater dort unten tief-traurig und melancholisch stehen, den Arm schlaff hochgehoben mit einer nach unten abfallenden Hand - da habe ich fassungslos geweint, ohne ganz recht zu wissen und zu erfassen, warum ich so weinen mußte. Vielleicht ahnte ich unbewußt manches, was auf uns alle zukommen würde.
In jene hannoversche Zeit fiel auch mein Konfirmandenunterricht bei Pastor Trautmann, der früher in Verden gewesen war, und von dem ich getauft worden bin. Vater hatte Achtung vor diesem aufrechten und graden Mann, wenngleich er selber damals mit allem, was Kirche hieß, wenig anzufangen wußte, sich mehr ablehnend verhielt. "Wer Bildung hat, der hat Religion", so hat er einmal gesagt und damit erklärt, daß für ihn die Kirche und ihre Verkündigung nichts bedeutete. Wie es später in ihm aussah und wie er zum christlich Glauben stand? Wer von uns kann das beurteilen? Sicher hat sich manches in seinem Denken in dieser Hinsicht geändert, vor allem dann in der Celler Zeit. Aber niemand weiß im Grunde wirklich, wie der andere denkt und fühlt und empfindet - ich würde das in meiner Beurteilung über Vater's Christlichkeit so sagen wollen und überlasse diese Beurteilung einer höheren Instanz. Jedenfalls verdanke ich es den Eltern, daß ich zu Pastor Trautmann in den Konfirmandenunterricht kam - wir waren nur vier Mädchen (damals war der Unterricht noch getrennt nach Jungens und Mädchen), und dieser Unterricht hat mir viel bedeutet und mir die erste nähere Berührung mit der Kirche gebracht. Pastor Trautmann ist übrigens später beim Bombenangriff auf Hannover mit Frau und Kind umgekommen.
Als wir dann 1934 nach Celle umzogen, bin ich sehr bald doch in den B.D.M. eingetreten und wurde kurz darauf Führerin bei den Jungmädeln. Mir hat diese Arbeit Spaß gemacht, es war einfach der Umgang mit den jungen Menschen, die Fahrten, das Singen, die Heimabende, das alles lag mir und machte Freude. Die weltanschauliche Auseinandersetzung kam erst später. Ich wurde etwa zu gleicher Zeit Glied der Evangelischen Jugend und dann Helferin im Kindergottesdienst. Eines Tages wurde ich vor die Wahl gestellt entweder weiterhin Führerin bei den Jungmädeln oder Kindergottesdiensthelferin. Ich entschied mich für das Letzte und gab die Arbeit als Führerin auf. Das erregte unter meinen Mädels ziemlich viel Aufsehen und man fragte nach Gründen. Damals wagte die Partei noch nicht, die Kirchlichkeit als Grund zu einer Absetzung anzugeben, so verbreitete man durch die höhere Führungsinstanz in Celle, ich hätte Beitragsgelder unterschlagen und sei deswegen abgesetzt worden. So wenig Vater mit meiner B.D.M.-Tätigkeit einverstanden gewesen war: jetzt war er für mich da! Peinlicherweise war das Gerücht, ich hätte Gelder unterschlagen, durch eine Juristentochter verbreitet worden, deren Eltern mit unseren Eltern befreundet gewesen waren. Vater scheute sich nicht, diesen Menschen zu zitieren und auch einen Krach mit der Familie zu riskieren. Er hat dafür gesorgt, daß in aller Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde, daß ich aus anderen Gründen meinen Posten als Führerin niedergelegt hätte.
Kummer hat es Vater auch gemacht, als ich ihm sagte, ich wolle Gemeindehelferin werden , aber in den Weg gelegt hat er mir nichts. "Du mit deinem Hang nach unten" konnte er wohl sagen, und wünschte wohl, ich hätte studiert oder einen anderen Beruf als einen kirchlichen ergriffen. Ich glaube auch nicht, daß meine Ausbildung ihn irgendwie interessierte - er nahm es so hin , daß ich diesen Weg ging. Dann jedoch kam meine Verlobung mit Jochen, und Vater mochte ihn vom ersten Tag an leiden. Außerdem kam Jochen aus einer Familie, die Vater bejahte, so daß er sich hierüber wohl ohne Einschränkung gefreut hat. Jochen und er haben sich nicht oft gesehen, aber alle Begegnungen waren ohne jegliche Trübung und nur positiv und voller Sympathie. Als Jochen fiel und ich die Nachricht bekam - es war an einem Freitag - war ich in Burgdorf b. Wolfenbüttel. Ich fuhr am nächsten Morgen zunächst nach Braunschweig zu Jochens Mutter und Großmutter, dann weiter nach Celle. Ich kam in Celle mittags an, als Vater nach gehabtem Mittagsschlaf noch auf seiner Chaise lag. Ich habe ihn selten so gesehen und erlebt: er hatte Tränen in den Augen, streichelte meine Hand und sagte nur: du armes Kind! - Ich bin dann zunächst in Celle geblieben, bis ich im Januar 1942 als Gemeindehelfer in Verden anfing, in diesem Vierteljahr bis dahin habe ich Vater im Büro geholfen. Ich weiß nicht mehr genau - aber irgendwie hatte er in der Zeit keine Bürokraft, und ich konnte etwas Stenographie und ja auch Schreibmaschine. So habe ich in diesen letzten Monaten des Jahres 1941 bei ihm gearbeitet und so ein wenig mehr von seiner Tätigkeit miterlebt. Damals hatte er schon viele Pastorenprozesse zu führen, auch die Verteidigung jüdischer Menschen. Damals fing auch seine stärkere Verbindung zur Kirche an - vielleicht auch schon früher, denke ich.
In meiner Verdener Zeit habe ich dann in besonderer Weise seine Hilfe erfahren und ihn auf neue Weise kennen gelernt. Es muß etwa in den Jahren 43/44 gewesen sein, als ich vom Verdener Arbeitsamt dienstverpflichtet werden sollte und einen Kindergarten in der Ukraine übernehmen sollte. Ich war der Partei in Verden schon lange ein Dorn im Auge. Ich ersetzte ja sozusagen in der Stadt und in vielen Dörfern um Verden den inzwischen abgeschafften Religionsunterricht und hatte Erfolg, d.h. viele Kinder und Jugendliche kamen in meine Jugendkreise. So erhoffte man sich, mich lahm legen zu können, in dem man mir eine scheinbar ehrenvolle Aufgabe in der Ukraine übertragen wollte. Jedermann wußte die eigentlichen Gründe. Ich wußte zunächst nicht, was ich tun sollte, Leider rieten mir alle Pastoren dazu, nachzugeben und meine Arbeit in Verden aufzugeben - eine Nachfolgerin hätte es nicht gegeben, die Arbeit hätte also aufgehört. Ich fragte Vater, er kam nach Verden, war mit mir beim Leiter des Arbeitsamtes, der höflich aber sehr deutlich drohte. Ich wurde es bereuen, wenn ich mich nicht schicken ließe. Wir alle wußten, was dieses bedeuten könnte. Als Vater abends wieder zurückfuhr nach Celle, sagte er auf dem Bahnhof zu mir: gib nach - ich kann es nicht verantworten, was dir sonst alles passieren kann. Ich ging nach Hause, ziemlich unglücklich, aber da nun alle meinten, das Wagnis sei zu groß, war ich wohl bereit , nachzugeben. Am nächsten Morgen aber war ich fest entschlossen, nicht nachzugeben, und wollte schon in Celle anrufen. Da rief Vater mich an, er würde noch einmal nach Verden kommen. Wir haben dann noch einmal wieder alles durchgesprochen, die Gefahren, die für mich kommen konnten, wenn ich mich weigerte, das Aufgeben meiner gesamten Arbeit in Verden, die ich ja erst aufgebaut hatte - ca. 500 Kinder und Jugendliche, die ich dann im Stich ließ und für die mein Weggang auch Fragen aufgeworfen hätte, die sich nicht vereinigen ließen mit dem, was ich versuchte, ihnen nahe zu bringen. Vater und ich waren uns dann einig, daß ich in Verden bleiben sollte. Er hat mir sehr beigestanden in jenen schwierigen Tagen, und war der Einzige, der mich verstand und meine Haltung für richtig hielt. Ich habe sehr gemerkt, wie schwer es ihm war, seiner Tochter zu diesem Widerstand zu raten, es hätte ja auch alles für mich im K.Z. enden können! Aber wir wußten beide, es ging nicht anders. Ich bin dann wieder zum Arbeitsamtsleiter gegangen und habe ihm gesagt, ich würde in Verden bleiben, ich könne meine mir aufgetragene Arbeit nicht im Stich lassen. Er tobte, drohte, versuchte, mich zu überreden und entließ mich schließlich wieder mit den Worten: "das werden Sie noch bitter bereuen." Ich rief Vater an, und er half mir wieder durch seine ruhige und ganz klare Haltung, wie recht hatte er: von dem Tage an hatte ich keinerlei Schwierigkeiten mehr mit der Partei und konnte ungehindert meine Arbeit tun! Aber ohne seine Hilfe und seinen Beistand hätte ich wohl vielleicht doch nachgegeben - und was wäre dann aus mir geworden?!
Nach dem Zusammenbruch und seiner kurzen Zeit als Oberpräsident kam Vater dann als Landgerichtspräsident nach Verden, und wir sind uns häufig begegnet. Aber Vorteile hatte ich nicht von seinem Amt: er fuhr eines Tages, an dem ich auch nach Celle wollte, mit dem Dienstwagen nach Celle zu einer Sitzung, und ich fragte ihn, ob ich nicht mitfahren könne. Dieser Gedanke war für ihn völlig unmöglich: ich kann dich doch nicht im Dienstwagen mitnehmen! Also fuhr ich brav mit der Bimmelbahn hinterher! - Gleich nach der Kapitulation gehörte er auch zu den Männern, zu den Celler Bürgern, die von der Besatzungsmacht auf einem L.K.W. nach Bergen-Belsen gefahren wurden, um sich anzusehen, was dort im K.Z. angerichtet worden war. Wir alle haben ja nicht gewußt, was ein K.Z. wirklich war, unsere Phantasie reichte wohl zu solchen entsetzlichen Dingen nicht aus. Als Vater von Belsen zurück kam, hat er nicht mehr geredet, war aschgrau im Gesicht und wollte allein gelassen werden. Erst Tage hinterher haben wir einiges von ihm erfahren, was er an Grauenhaftem in Belsen sehen mußte.
Dann kam der nächste Kummer, den ich ihm bereitete: mein Eintritt in Bethel als Diakonisse. Mit allen Mitteln hat er versucht, mich von diesem Schritt zurückzuhalten. Er hat Gespräche geführt mit Menschen, von denen er wußte, daß sie auf mich Einfluß haben, bis hin zu Landesbischof Lilje. Er konnte nicht begreifen, daß eine seiner Töchter einen solchen Weg gehen wollte. Lilje hat mich an einem Abend zu sich bestellt und am Ende des Gespräches nur gesagt; ich werde noch einmal mit Ihrem Vater reden und Ihnen helfen. Auch ohne die Hilfe von Lilje wäre ich allerdings auch eingetreten, aber so war es dann doch leichter. Aber als Vater unterschreiben sollte, daß er nichts gegen meinen Eintritt hätte (damals mußten die Eltern noch unterschreiben, auch bei so erwachsenen Kindern von 31 Jahren, wie ich es war!) da sagte er zu mir: dies ist der schwärzeste Tag meines Lebens! Ich habe ihm nur gesagt, daß ich nicht anders handeln könne, und daß er das doch anerkennen möchte. Daß ich Oberin in Rotenburg wurde, hat er noch miterlebt, aber nicht mehr richtig erfaßt - es hätte ihn wohl gefreut und mit diesem Weg seiner Jüngsten ein wenig versöhnt!
1949 war sein Unfall, der den Altersprozeß so sehr beschleunigte. Wir merkten es nicht gleich, 1950 an seinem 70. Geburtstag freuten wir uns doch, wie verhältnismäßig gut es ihm wieder ging. Und dann ging es von Jahr zu Jahr bergab und es war schwer, mit zu erleben, wie dieser geistig so rege Mann mehr und mehr verfiel. Ich erinnere die letzten Tage vor dem Schlaganfall, da ich damals grade in Celle war - teilweise war auch Rudolf in den Tagen da. Er bat mich an einem Nachmittag, mit ihm auf die Straße zu gehen und fragte mich: nun erkläre mir doch, wo ist jetzt unser Garten, wo ist der Bahnhof, wo ist die Kirche? Und dann mit einem tieftraurigen Ausdruck: warum ist das alles so, daß ich mich nicht mehr mit euch unterhalten kann, daß ich alles vergesse und nichts mehr begreife? - Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe, ich habe nur in dem Augenblick gewußt, daß Vater viel mehr unter seinem geistigen Verfall litt, als wir weithin bemerkt haben. In jenen Tagen stand ja auch die Frage seiner Entmündigung zur Debatte und meine Verhandlungen mit Bethel, daß er dort aufgenommen werden sollte, da Mutter die Pflege nicht mehr bewältigen konnte. Ich war dabei, als die Herren kamen, die eine Entmündigung beglaubigen (oder ermöglichen?) sollten. Es waren alles Juristen, zwei oder drei Herren, die ihn alle kannten. Es war schrecklich. Sie fragten ihn dann: Herr Landeshauptmann, wie alt sind Sie? Da brach noch einmal Vater's Klugheit hervor: ich bin 1880 geboren, das andere, denke ich, können Sie sich selber ausrechnen! Er konnte es nicht mehr, aber sein Geburtsjahr wußte er noch!
Der Arzt hatte für die Nacht eine Spritze bereit gelegt, die ich ihm geben sollte, Rudolf wollte dabei helfen. Aber es war nicht nötig und - ich glaube, es war schon der nächste Tag - kam dann der Schlaganfall, und wir brachten ihn in's Celler Krankenhaus. Er lag dort 1. Klasse, aber ich werde nie vergessen, wie er behandelt wurde. Ich will es dem Krankenhaus nicht nachtragen, aber es war zu schrecklich, in welch ungepflegtem Zustand ich ihn nach zwei Tagen dort vorfand. Er war ja nun ein reiner Pflegefall mit allem, was dazu gehört - und man ließ ihn im Blick auf Sauberkeit völlig verkommen. Wir haben ihn dann nach Rotenburg nehmen können, und er hat es hier noch gut gehabt. Aber daß er die Behandlung in Celle sehr wohl empfunden hat, zeigte seine Reaktion auf die gute Pflege hier. Unsere Schwestern waren entsetzt, in welchem Zustand er hier ankam, und als sie ihn dann gewaschen und gesäubert hatten, sagte er ein ums andere Mal: das ist doch alles viel zu schön für mich!
In den letzten Lebenstagen hier war er meistens unklar, lebte in der Vergangenheit, diktierte Schriftsätze und eine unserer Schwestern hat sich dann zu ihm gesetzt und gesagt: Herr Rechtsanwalt, diktieren Sie, ich schreibe. - So redete er vor sich hin und lebte in der Juristerei, die sein Leben ausmachte. Er sprach viel französisch - und Evchen und ich bemühten uns, an Hand von einen Lexikon, ihm antworten zu können. Er erkannte uns sehr oft nicht mehr, siezte uns und lebte in seiner eigenen Gedankenwelt. So war es eine Erlösung, als am 7. Oktober 1958 allem Leiden ein Ende gesetzt wurde. Am 10. Oktober wurde er auf unserem Neuenhäuser Friedhof in Celle begraben - eine große Trauergemeinde war anwesend. Evchen verlor plötzlich dabei die Fassung und weinte sehr: Die Erinnerung an die letzten Wochen und Monate standen zu sehr im krassen Widerspruch zu dem, was unser Vater einmal gewesen war und was bei der Beerdigung noch einmal wieder zum Ausdruck kam.
Ich selber bin in all den Jahren seitdem oft und immer wieder auf ihn angeredet worden und habe durch meine eigene Tätigkeit in der Synode manches von dem erfahren, was Vater für die Kirche im 3. Reich bedeutet hat. Oft, wenn ich irgendwo vorgestellt werde, heißt es dabei: sie ist die Tochter vom alten Hagemann! - und immer schwingt viel Ehrfurcht in solchen Worten. Es ist erstaunlich, was für Prozesse er gewonnen hat im 3. Reich. Und das, was alle an ihm bewunderten, war seine Unerschrockenheit, wenn es darum ging, das Recht zu verteidigen. - So steht Vater vor mir, und ich weiß, je älter ich werde, wie stark er mich geprägt hat. Und ich denke dabei an einen Satz von ihm: "wenn ihr ein gutes Elternhaus gehabt habt, so ist das kein Vorrecht für euch, sondern nur eine Verpflichtung! " - Dieser Satz hat für mich Gültigkeit.
Rosi

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