Erinnerungen von Gabriele Krahnstöver

Aus Familienalbum
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Gabriele Krahnstöver


Erinnerungen an Eberhard Hagemann



Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit
auch schwankend gesinnt ist,
der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter,
aber wer fest auf dem Sinne beharrt,
der bildet die Welt sich!
Diesen Vers schrieb Vater mir in mein Poesie-Album, als ich etwa 12 Jahre alt war. Ich weiß, daß ich damals gar nichts damit anfangen konnte, ja mich fast genierte, so einen Vers im Poesie-Album stehen zu haben, natürlich hat Vater sich etwas dabei gedacht, als er ihn gerade mir schrieb, das habe ich später auch gewußt, und mich nicht gerade oft, aber doch gelegentlich daran erinnert. So kam er mir auch als erstes in den Sinn, als die Idee auftauchte, die Erinnerungen an unseren Vater aufzuschreiben!
Ich weiß, daß ich mich in dieser Zeit sehr viel gelangweilt habe, vor allen überhaupt nicht gelesen, das fand Vater mit Recht unmöglich und er erteilte mir die Auflage, jeden Tag mindestens 12 Seiten zu lesen, ihm abends zu berichten, was ich gelesen hatte. Das habe ich eine ganze Zeit betrieben und gar nicht ungern, vor allem hörte Vater mich immer in aller Ruhe an und wir haben uns über Mancherlei dabei unterhalten, und das Wichtigste ist: ich habe lesen gelernt! Vater war mit Sicherheit autoritär, aber was er von uns verlangte, war immer überlegt und bedacht, vielleicht habe ich darum seine Autorität nie als Belastung empfunden, sondern immer als selbstverständlich und nie als Zwang! Mehr wie gewundert habe ich mich auch nicht, wenn so seltsame Dinge passierten wie die, daß auf einer gemeinsamen Reise nach Hannover wir Kinder in die 3. Klasse einsteigen mußten, während er mit Mutter 2. Klasse fuhr!
Sehr frühe Erinnerungen habe ich nicht, die erste ist ein Sonntagmorgen, an dem Vater uns schwarze Masken gab, die er am Abend vorher bei einem Kostümfest getragen hatte. Es existiert noch ein sehr vergnügtes Bild unserer Eltern, wir Drei in einheitlich dunkel-grünen Mänteln mit passenden Hüten. Ich erinnere noch, wenn Vater und Mutter abends ausgingen und vorher noch zum Gutenachtsagen kamen, wir lagen schon im Bett bestens betreut von Minna! Einmal hatte Mutter das Kostüm der Porzellan-Puppe an, die jetzt bei Rosi steht, Vater hatte die Angewohnheit, in unser Schlafzimmer zu kommen und nach uns zu sehen, wenn die Eltern abends spät nach Hause kamen. Dann nahm er sein Schlüsselbund aus der Tasche oder auch seinen Schlips und kitzelte uns damit an der Nase. Er freute sich dann diebisch, wenn wir im Schlaf danach schlugen und uns ärgerten, daneben stand Mutter und fand dieses Vergnügen von ihm entsetzlich, "die armen Kinder, man weckt sie nicht aus dem Schlaf!" Dazu gehört auch, daß er uns erzählte, in der Sylvesternacht würden alle Betten umgedreht, was wir natürlich nicht glaubten; Aber oh Wunder, als wir am Neujahrsmorgen aufwachten, lagen wir anders herum in unseren Betten! Er hatte natürlich nicht die ganzen Betten umgedreht, sondern uns einfach mit dem Kopf an das Fußende gelegt!
Dann kam der August 1914, genau wie Bertchen erinnere ich mich, daß wir am großen Flurfenster standen und auf die Tür zur Georgsstraße guckten, hinter der Vater in Uniform mit seinem Burschen verschwand. Was es bedeutete, wußte ich nicht, mir war nur klar, daß es etwas Außergewöhnliches sein mußte! Die nächste Erinnerung ist Weihnachten 1914, Rudolf war erst ein paar Tage alt und Tante E war da, um für uns Kinder Weihnachten festlich zu gestalten! Die Bescherung war schon gewesen und wir spielten im Weihnachtszimmer, als Vater plötzlich da war. Ich weiß nur, daß es verwunderlich und irgendwie gut und schön war, Kriegserinnerungen sind dann einige da, aber sie verbinden sich nicht unbedingt mit Vater. Da tauchte sein Bursche auf und irgendwie waren immer Lebensmittel im Spiel. Der 25.9.1917 ist mir in Erinnerung, daß wir unten im Garten spielten und dann zu den Bekannten gingen, um zu verkünden, daß wir eine Schwester bekommen hätten, daß wir aber keinen Namen für sie wüßten, daß wir Vater eine Liste mit Mädchennamen in's Feld schickten und er sich für Rosemarie entschied, ich fand damals Cäcilie viel schöner!
Dann kam der Umzug zum Holzmarkt, vorher der "andere Garten" und die Überlegungen, dort eventuell zu bauen. Ich weiß noch, daß wir des öfteren mit Vater zum Holzmarkt gingen, um Eingemachtes und solche Sachen rüberzubringen, daß er am Umzugstag schon in seinem Büro war und letztlich Alles ohne sein Zutun zu Ende ging! Dann kamen sehr ruhige und friedliche Jahre für uns Kinder, Vater war da, arbeitete bis spät abends im Büro, war zum Abendrot immer da, mittags gelegentlich nicht, dann wurde sein Essen in den 2 Zinn-Schüsselchen für ihn warm gestellt. Oft kam er zum Essen, mußte aber bald wieder weg zum Gericht. Trotzdem legte er sich zum Mittagsschlaf in sein Zimmer auf die Chaiselongue und beauftragte eines seiner Kinder, ihn zu wecken nach 7 und einer halben Minute, oder auch mal nach 11 oder 14 Minuten! Wenn der Betreffende dann pünktlich erschien, schlief er ganz fest, war aber gleich wach und stand ausgeschlafen und erfrischt auf! Ein besonderes Kapitel war es auch, wenn er krank war und dann für einige Tage im Bett lag. Er mochte nicht allein bleiben, fand, daß sich einer der Familie um ihn kümmern müßte. Also wurden die gerade zu Hause Anwesenden bestellt, auf die Minute genau mußten wir erscheinen, er lag dann da mit dem Zeigefinger an der Schläfe und zählte seinen Puls, das Resultat hatte man zu registrieren, eventuelle kleine Handreichungen zu erledigen und nach Angabe der nächsten Zeit, zu der man zu erscheinen hatte, war man in Gnaden entlassen. Er nannte uns dann seine Raben!
Diese ruhigen, friedlichen Jahre im Holzmarkt können kaum sehr als 10 Jahre gewesen sein, es gibt für mich auch keine besonderen Erinnerungen daran, aber unzählige liebenswerte, kleine Einzelheiten. Die gemeinsamen Mahlzeiten, abends mit langen and guten Gesprächen, oft mit belehrenden, aber sicher sehr lehrreichen. Wie lange sie dauerten war mir gleich, und Mutters Ermahnungen: "Vater die Mädchen" haben mich genau so geärgert wie ihn, denn durch das Aufstehen vom Tisch waren die Gespräche vorbei und jeder ging seiner Wege! Mittags war es nicht so gemütlich, da gibt es für mich andere Erinnerungen. Die hauchdünnen Fleischstücke, die Vater meisterlich zu schneiden verstand, ein Hasenrücken mußte für die ganze Familie am liebsten 2 mal reichen. Das "Helgoland" in Oma's Reiskuchen und das hauchdünne "Nagelholz" von Bitter, das nur er bekam. Da gab es noch mancherlei Dinge mehr, z.B. die 2 Steintöpfe voll Scheibenhonig, von dem wir nichts abbekamen. Aber auch das habe ich immer als völlig selbstverständlich hingenommen, Vater war einfach die Hauptperson im Hause und gedarbt haben wir mit Sicherheit auch nicht! Irgendwann tauchte Conny Wilson auf, damit wir gut englisch lernen sollten. Es hat sicher etwas geholfen, aber ob die Idee von Vater sonst gut war? Meine Erinnerung an sie ist ihr sehr unordentliches Zimmer, ihr Techtelmechtel mit Herrn Breitenbach, das gemeinsame Tennisspielen und unser Radebrechen bei den Mahlzeiten, am wenigsten erinnere ich mich an ihre Unterrichtsstunden. Es wurde bei Tisch tatsächlich weitgehend englisch gesprochen, das heißt das, was wir dafür hielten, ich höre noch Vater's: "gif me please the butterbux"! Nach dem Aufenthalt in der Untermühle war Conny dann plötzlich verschwunden!
Merkwürdig viel Erinnerungen habe ich an die gemeinsamen Mahlzeiten, das ist erklärlich, denn sonst haben wir ihn an normalen Tagen nicht viel gesehen, nur noch im Sommer die Gänge abends in den "Anderen Garten", typisch mit seiner Hand an unserem Oberarm, Spargel und Erdbeeren interessierten ihn am meisten. Das sonntägliche Singen oben in Mutter's Zimmer, wobei ich wohl mitgesungen habe, aber mit Mutter und Bertchen konnte ich nicht konkurrieren, Vater hatte diese Nachmittage sicher gerne, und ich mochte sie auch. Lieber, als wenn wir abends gelegentlich in der Küche singen mußten, um ihm die Zeit zu vertreiben, wenn seine Nackenfurunkel mit heißem Dampf behandelt wurden, und er immer weiter vom Herd abrückte, als Mutter für richtig hielt.
Ich schreibe immer "wir", aber ohne Bertchen und Evchen sind diese Erinnerungen einfach nicht denkbar, und sie waren immer dabei in dieser Zeit. Das Radfahren hat Vater mir auch beigebracht, auf jeden Fall besser als sich selbst das Motorradfahren in der Windmühlen-, nein, es war die Marienstr. Jeder, der vorbeikam, blieb stehen und amüsierte sich, ich weiß aber, daß ich mehr Sorge gehabt habe als Spaß, und das erwies sich nach, ich glaube seiner ersten und einzigen Fahrt nach Walle und Dauelsen als sehr berechtigt, technisches Gefühl, geschweige denn Verständnis hatte er überhaupt nicht, wollte es auch gar nicht haben, dafür hatte er seine Frau oder die Mädchen, er behauptete ganz einfach: "die Technik verschwört sich gegen mich", und ließ andere den Stecker in die Steckdose stecken oder den Füllfederhalter füllen! Nachdem ich das Radfahren gelernt hatte, mußte eine Geschicklichkeitsfahrt im Garten abgelegt werden, ich sehe mich noch mit den Schwestern durch den kleinen schmalen Weg zwischen den Rasenflächen radeln. Dann wurden auch noch Hindernisse in die Wege gelegt, die wir nicht berühren durften und absteigen natürlich schon gar nicht. Wenn das fehlerlos bestanden war, durften wir auf die Straße, zur Belohnung machte er am nächsten Sonntag mit Bertchen und mir eine sehr schöne Fahrt über Wald- und Wiesenwege, Evchen hatte nicht bestanden und durfte nicht mit! Konsequent war er immer, in späteren Jahren durften wir andrer Meinung sein, aber damals tat ich es mit Sicherheit nicht!
Da ist dieser komische Aufenthalt von Bertchen, Rudolf und mir in Juist, ich war wohl 12, Bertchen also 13 und unser kleiner Bruder demnach 7. Mutter mußte zur Erholung nach Schierke, Evchen kam bei Tante Ellinor unter, Rosi blieb zu Hause und wir drei wurden nach Juist verfrachtet, um unsere vielen Erkältungen auszukurieren. Beaufsichtigen sollte uns Frau Stelter, das bestand aber nur darin, daß wir drüben in ihrem Elternhaus essen konnten, sonst waren wir uns völlig selbst überlassen! Ich weiß, daß wir sehr unglücklich waren und gräßliches Heimweh hatten, was wir eigentlich den ganzen Tag getrieben haben, erinnere ich nicht mehr, auf jeden Fall waren wir viel am Strand und haben auch ohne Aufsicht gebadet. Schlimm war, daß Rudolf und Heinrich Stelter sich so viel zankten, wenn wir naturgemäß unserem Bruder beistanden, petzte er das seiner Mutter und wir kriegten Schimpfe bei der nächsten Mahlzeit! An einem Sonntag nach der halben Zeit besucht Vater uns und merkte wie unglücklich wir waren, aber er hat uns dagelassen, als er Sonntag Abend wieder wegfuhr, ich sehe mich noch an der Inselbahn stehen und haltlos weinen, ich weiß auch, daß es ihm sehr nahe ging, uns wieder allein zu lassen, aber wir mußten bleiben! Außer der unerfreulichen Erinnerung ist nichts Nachteiliges geblieben, aber die nächsten Aufenthalte in Juist waren sehr viel erfreulicher!
Wenn Vater's Motto auch war: "von Geld redet man nicht, das hat man", so wurden wir doch einfach und sparsam erzogen. Nur wenn es um kulturelle Dinge ging, um Bildung und Wissen war er immer bereit, es uns zu erlauben, ja er verlangte solche Unternehmungen direkt. Zunächst war in Verden der Kunstverein, in dessen Vorstand Vater war, ich denke mir, daß er dafür gesorgt hat, daß namhafte Leute nach Verden kamen. Von einem gewissen Alter an durften wir mit, und ich fand es immer sehr erhebend, als seine Tochter dabei zu sein. Gelegentlich mußten wir aber auch etwas dafür leisten. Als der Sänger Raths-Brokmann zu einem Liederabend kam, an dem er Loewe-Balladen singen sollte, verlangte Vater von uns Dreien, daß wir in, ich glaube 4 Tagen, die ganze Ballade Archibald Douglas auswendig lernten. Wir haben es getan und am fraglichen Abend gekonnt, ich weiß noch das erhebende Gefühl, beim Singen den Text genau zu kennen. Nach den Veranstaltungen kamen die Künstler immer zu uns nach Haus, wir mußten dann gleich in's Bett, aber an dem Abend erzählte er im versammelten Kreis, daß wir in wenigen Tagen die Ballade gelernt hätten, und wir ernteten viel Lob! Vater nannte den Verein immer scherzhaft: "Kunst und Dunst!"
Ich erinnere mich nicht, daß Vater sich um meine schulischen Leistungen gekümmert hat. Ich tat, was zu tun war, eine besonders gute Schülerin war ich nie, immer 2-3, was heute bestimmt nicht schlecht wäre. Er hat mir nie einen Vorwurf gemacht, daß ich nicht so gut war wie meine Schwestern, ich ihm aber auch nie einen Vorwurf, daß ich für meine Zeugnisse kein Stück Torte bekam, ich hatte eben kein 2er Zeugnis und also keine Torte verdient! In späteren Zeiten entfiel das Stück Kuchen, denn da hätte ich es bestimmt verdient. Daß ich sowohl in Bremen wie in Jena die Examen mit 1 machte wurde garnicht erwähnt, diese Materie war ihm fremd und es war selbstverständlich, daß seine Tochter das konnte, denn diese Richtung hatte ich gewollt, er hat nie von mir verlangt, daß ich Abitur machte und hat erst viel später eingesehen, daß mir zumindest ein gesunder Menschenverstand nicht abzusprechen war!
Sehr genau erinnere ich mich an einem Vormittag im Jahre 1925, als Vater in der Pause auf des Schulhof erschien und mich sprechen wollte! Es ging da um eine Reise nach Griechenland, die er mit Herrn v. Lenthe zusammen unter wissenschaftlicher Leitung unternehmen wollte! Die Reise sollte um Ostern stattfinden, und er wäre dann bei meiner Konfirmation nicht da gewesen. Er mußte sich schnell entscheiden und kam in die Schule, um mich zu fragen, ob ich damit einverstanden wäre! Natürlich sagte ich ja, war aber sehr beeindruckt davon, daß er mich gefragt hatte. Er schickte zum Konfirmationstag ein Telegramm aus Athen, das ich lange Jahre sehr in Ehren gehalten habe!
Während meines Jahres in Berlin-Nikolassee hat er mich gelegentlich besucht, es fiel in die Zeit seiner Staatsrats-Tätigkeit. Er ging mit mir in's Theater oder wir trafen uns bei Max Hagemann und der sehr geliebten Tante Otti! Ich weiß, daß ich einmal eine Karte von ihm kriegte auf der nur stand: "bist untreu Wilhelm oder tot, wie lange willst du schweigen?" Da hatte ich irgendwie vergessen, ihm zu schreiben, wann ich aus der Zimmer-Stiftung wegkonnte, um ihn zu treffen. Ich erinnere mich auch an einen Besuch von ihm in Jena, den er auch mit einer Dienstreise verbunden hatte! Da hat er Berti zum ersten Mal gesehen, sie fuhr mit zum Treffpunkt Wartburg, und ich erinnere mich, daß es ein sehr gelungenes Treffen war, und er sehr spendabel! Während meiner Ausbildungszeit in Bremen kam er auch, wohl dann, wenn er im November in Grolland tagte. Da erinnere ich einen Abend mit ihm und Erich Grisebach im Ratskeller, wo ich die ersten und ich glaube auch einzigen Austern meines Lebens gegessen habe! Dazu gehörte des Putenessen in Grolland und die Besuche bei ihm im Hotelzimmer! Zum Abschied durfte ich ihm dann einen Kuß auf die Stirn hauchen, wie auch als Kinder beim Gutenacht-Sagen. Ich höre ihn noch "uff" sagen!
Damit sind die Kindheits- und Jugenderinnerungen vorbei und es beginnt die Zeit mit Walter und der Ziegelei, in der er mir aber sehr zur Seite gestanden hat, so lange er es noch vermochte! Vater kannte und schätzte Berti und wußte von ihrer Familie, auch vom geschiedenen Bruder Walter, als er dann auftauchte, um mich zu heiraten, schickte er ihn zunächst in den "Französischen Garten", weil er fand, er konnte keine Familie ernähren! Diese fast komische Situation, die es damals für mich natürlich nicht war, sehe ich noch deutlich vor mir! Vater fand dann aber nichts dabei, daß ich hinter Walter her ging und den Rest des Tages mit ihn in Hannover verbrachte! Er hat ihn auch als Schwiegersohn akzeptiert und geschätzt. Ich erinnere mich an die sehr schöne harmonische Hochzeit im Hause, nachdem alle Kriegssorgen gebannt schienen und Vater und Mutter sehr vergnügt waren. In seinen Tischrede hob Vater hervor, daß ich ihm eigentlich nie echten Kummer oder Sorgen gemacht hätte. Damals hat es mich sehr gefreut, aber jetzt muß ich feststellen, daß ich wirklich für einen Vater ein sehr bequemes Kind gewesen bin! Ich hatte eben immer das Gefühl, daß er mir sehr zugetan war, also warum hätte ich unbequem sein sollen! Daß Vater Walter mochte und Zutrauen zu ihm hatte, fand ich ganz selbstverständlich, ich hatte es auch, im Übrigen habe ich mich in all den Jahren um die finanziellen Dinge wenig gekümmert, sie auch nicht übersehen, nur gefunden, daß er es schon richtig machen würde! Denn Walter hatte mit dem Einverständnis von Opa und seiner Unterstützung das Unternehmen Bekum gestartet. Der Grund für Vater war wohl in Hauptsache der, daß er die Existenz als Möbelkaufmann in Leipzig für Walter und mich nicht passend fand! Ab Februar 1945, als Walter in den Krieg mußte, ruhte zunächst Alles und es gab auch für Vater nichts mehr zu kümmern.
Wiedergesehen habe ich ihn dann Ende Mai, als er von den Engländern als Oberpräsident in Hannover eingesetzt worden war und mit seinem Dienstwagen in Bekum erschien, um zu sehen, ob die Kinder und ich noch lebten, und die Ziegelei noch stand. Daß er zu diesem Zweck seinen Dienstwagen nahm, beweist, wie sehr er sich um uns geängstigt hatte, denn in normalen Leiten nahm er nie seinen Dienstwagen für private Zwecke. Daß wir zwar anständig beklaut worden waren, aber gesund waren, so selbstverständlich war es nicht! Ich erinnere mich dann an einen Besuch von mir in Hannover, da wollte ich ihn um Rat fragen wegen der Ziegelei. Ich durfte in sein fürstliches, für mein Gefühl damals zumindestens, Dienstzimmer kommen. Anschließend haben wir zusammen sehr gut gegessen, und ich fuhr getröstet wieder gen Bekum! In der Gewißheit, daß er mir helfen würde, wenn Walter nicht zurückkommen würde! Einmal schickte er uns noch seinen Wagen, als wir alle zusammen nach Celle fuhren zu Mutters 50. Geburtstag, solche Unternehmungen wären ohne Auto nicht möglich gewesen, zumal auch Evchen mit ihrem Herzfehler bei mir lag und Hiltrud, die ein halbes Jahr alt war!
Bevor ich zu den letzten Jahren komme, noch die amüsante Geschichte mit unseren Schweinen hinten im Garten! Damit die wertvollen Tiere nicht gestohlen wurden, war eine Alarmanlage angelegt, die in das Schlafzimmer von den Eltern führte. Wenn die Tiere sich heftig schubbelten an der Türe, ging die Glocke los. Wir Kinder wurden genau so wach nebenan wie Vater und Mutter, wir erschienen aufgeregt bei ihnen! Dann erhob sich die Frage, wer nachgucken sollte, was los war. Gehen tat dann Mutter mit einem der Mädchen, wir blieben bei Vater mit Angst und viel Spannung. 2 oder 3 mal ist das passiert, es waren aber nie Diebe, also ging man dazu über, die Anlage abzustellen. Dabei fällt mir der Vers ein, den Vater bei der Juristischen Sylvesterfeier in den Jahren kriegte: "der Rechtsanwalt am Holzmarkt, der mästet viele Schwein, doch keines ist so dick, wie seine Kinderlein wohl sein". Ich weiß, daß wir sehr empört waren, schließlich waren wir damals fast schon Backfische. Aus Erzählungen weiß ich noch einen früheren Vers: "der Hagemann hält sich zum Trall, ein Kindermädchen namens Hannibal."Bei diesen Versammlungen ist es wohl immer sehr vergnügt zugegangen, Vater kam immer sehr vergnügt zurück und erzählte mit ganz verschmitztem Lachen die neuesten Witze von Dubois. In die Zeit fiel auch die Geschichte mit dem 11. Kind von Herrn v. Hodenberg. Vater ließ das Bild, das im Flur hing und den Nil mit seinen vielen Nebenflüssen als Vater mit vielen Kindern darstellte, abphotographieren, statt der Unterschrift "Il Nilo" kam darunter "Il Hodo". Solche Sachen heckte er gerne mit Herrn v. Lenthe aus, der auch voll Witz und Humor steckte.
Unser Wohlergehen lag Vater immer am Herzen. So erinnere ich mich an den Abend, als er uns in Eberbach in der Jugendherberge besuchte, während unserer Wanderung durch das Taubertal. Er hat uns in eine Gastwirtschaft mitgenommen, wo er jedem ein anständiges Stück Fleisch vorsetzte, das uns herrlich schmeckte nach unseren etwas kärglichen Mahlzeiten unterwegs. Daß er 3 seiner Töchter mit 2 Freundinnen wandern ließ, war in Verden fast eine Sensation. Herr v. Hugo bemerkte dazu nur: "Hagemann, dann sind Sie gleich alle los!"
Übrigens hat Vater auch Walter und mich auf der Hochzeitsreise in München besucht, er war auf irgendeiner Durchreise. Er tauchte plötzlich bei uns im Hotel auf, führte uns zum Essen aus, und es war ein sehr vergnügter Abend im sehr bekannten Münchener Speiselokal. Eine Reise habe ich mit Vater zusammen nach Italien gemacht. Angefangen haben wir in Venedig bei einer wunderschönen, sehr umfangreichen Rembrandt-Ausstellung, die wunderbar war. Wir waren in Florenz, wohnten in einer ganz alten deutschen Pension bei 2 ganz alten Damen, die früher einen sehr guten Ruf gehabt hatte. Dann kam Ravenna und Rom. Die lebhafteste Erinnerung habe ich an Ravenna, auch wegen seiner Schönheit, aber vor allem, weil Vater, dem die frischen Feigen so gut geschmeckt hatten und er viel davon gegessen hatte, erheblichen Durchmarsch bekam. Damals war als Diät gerade geriebene Äpfel modern. Er erklärte sich bereit, sie zu essen, denn es ging ihm wirklich nicht gut. Es war gar nicht einfach, in Italien frische Äpfel zu bekommen, geschweige denn eine Apfelreibe. Das glückte mir schließlich, aber dann wollte Vater nicht auf seinem Zimmer essen, sondern im allgemeinen Speiseraum. Ich genierte mich schrecklich, in aller Öffentlichkeit Äpfel zu reiben, ich tat es natürlich, weiß noch, daß mir mein Essen gar nicht schmeckte. So viel ich weiß, hat die Diät aber geholfen. Als ausgesprochen unangenehm erinnere ich noch, daß er sich immer von den Taxi-Fahrern in Italien über's Ohr gehauen fühlte und mit ihnen feilschte in sehr gebrochenem italienisch, ich bin jedes Mal weggegangen, empfand es als ausgesprochen unwürdig. Sonst hatte Vater eigentlich ein gutes Verhältnis zu, wie man zu sagen pflegte, "Untergebenen". Er bewahrte immer die nötige Distanz, war aber freundlich, oder besser jovial. So jedenfalls ist es mir vorgekommen, auch als ob man vor Vater absolute Achtung gehabt hätte. Das Verhältnis war natürlich völlig anders als heutzutage. Aber für die damalige Zeit wohl selbstverständlich, dabei achtete Vater die Handwerker durchaus, was ihn aber nicht hinderte, sie grundsätzlich sehr lange auf das Bezahlen der Rechnungen warten zu lassen, 1 Jahr fand er nicht ungewöhnlich. Ich erlebte einmal eine Auseinandersetzung zwischen ihm und Mutter, die sehr unglücklich über seinen Standpunkt war!
Ich kann mich nicht erinnern von Vater je bestraft worden zu sein! Ob ich es nicht nötig hatte oder ob er andere Mittel hatte zu erziehen, weiß ich nicht. Ich weiß nur noch, daß Rosi einmal Schläge von ihm bekam wegen einer Kleinigkeit, als sie darauf hin weinend aus des Zimmer lief, meinte er ganz befriedigt; "so nun bin ich es los", wahrscheinlich hatte er sich über irgend etwas geärgert und fühlte sich befreit. Sonst erinnere ich nichts derartiges.
An die letzten Jahre von Vater habe ich wenig Erinnerung, Walter kam zurück und verhandelte mit ihm, er war gelegentlich in den Jahren von 45-50 noch zu Besuch in Bekum, aber da ging es vornehmlich um geschäftliche Dinge. Daß er sich für die Enkelkinder sehr interessierte, erinnere ich nicht. Dann kam der sehr turbulente 70. Geburtstag von ihm in Celle mit allen Kindern und Enkeln, von dem er selber an wenigsten hatte. Zwischendrin war ich gelegentlich in Celle, mal mit Walter, mal mit den Kindern. Später erinnere ich ruhige und friedliche Spaziergänge mit ihm in den Französischen Garten, kaum noch mit Unterhaltung, nur hin und wieder, wenn er Bekannte traf. Dann war die sehr stille Goldene Hochzeit nur mit uns Kindern. Von den letzten Wochen weiß ich wenig, ich kam immer nur für Stunden und hörte die Erzählungen von Mutter und Frau Wetzel. Am Tage vor seinem Tode war ich mit Felix bei Stefan in Varel gewesen. Wir unterbrachen unsere Rückreise in Bremen und kamen nach Rotenburg. Ich sah ihn an dem Abend und am nächsten Morgen friedlich schlafend liegen.
Beim Schreiben ist mir voll Erstaunen klar geworden, wieviel da aus der Versenkung herauf kam. Es sind hauptsächlich Kleinigkeiten, die mich an Vater erinnern, und es sind durchweg gute und freundliche Erinnerungen, die das Denken und Schreiben so leicht machten. Wie gut und schön haben wir es gehabt in diesen Elternhaus und wie hat es uns geprägt. Je älter ich werde, desto mehr erkenne ich das und freue mich daran. Ich kannte den Ausspruch von Vater nicht, der am Ende von Rosi's Bericht steht, bin froh ihn jetzt zu kennen und stimme ihm voll und ganz zu: ein gutes Elternhaus ist kein Vorrecht für euch, sondern eine Verpflichtung!

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