Über Kaiser Wilhelm II, den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit: Unterschied zwischen den Versionen

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Deutschland war nicht Kriegsschauplatz. Es gab noch keine Flugzeuge, die Bomben abwarfen. Uns Hagemanns in Verden ging es relativ gut. Mutter schaffte sich Hühner und Schweine an, von denen wir nichts abzugeben brauchten genau so wie es auch bei den Bauern war. [[Felix Klein]]s Tochter hat man nicht an der Wiege gesungen, daß sie einmal Hühner schlachten würde. Aber sie brachte den Mut auf. Sie ließ auch Hühner brüten und zog Küken groß. Wir hatten Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume im eigenen Garten und Gemüse.
 
Deutschland war nicht Kriegsschauplatz. Es gab noch keine Flugzeuge, die Bomben abwarfen. Uns Hagemanns in Verden ging es relativ gut. Mutter schaffte sich Hühner und Schweine an, von denen wir nichts abzugeben brauchten genau so wie es auch bei den Bauern war. [[Felix Klein]]s Tochter hat man nicht an der Wiege gesungen, daß sie einmal Hühner schlachten würde. Aber sie brachte den Mut auf. Sie ließ auch Hühner brüten und zog Küken groß. Wir hatten Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume im eigenen Garten und Gemüse.
 
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Ganz anders war es in Duisburg. Euer Papa (gemeint ist Großvater, ihr Mann [[Peter Hillebrand]]) hatte sich als Schuljunge ein Bein gebrochen. Gehgips und Krücken gab es noch nicht. So mußte er viele Wochen liegen. Sein Bett wurde in die Küche gebracht, wo es warm war und seine Mutter sich meistens aufhielt. Eines Tages legte sie nach dem Tischdecken etwas Rundes auf jeden Teller. Ihr Jüppken reckte den Hals: "Kriegt jeder heute ein Ei?" "Nein, eine Kartoffel". Der Begriff "Steckrübenwinter" entstand. Da gab es Tag für Tag nur Steckrüben ohne Fleisch und Kartoffeln. Sogar der Kaffee morgens wurde aus zu Mus gestampften Steckrüben gemacht. Wer das mitgemacht hat, wird nicht am heutigen Essen rumnörgeln wie die Schülerinnen in Gabrielens Wohnheim in Freiburg. Erbsensuppe mit Schwammklößen wäre ein Festmahl gewesen.
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Ganz anders war es in Duisburg. Euer Papa (gemeint ist Großvater, ihr Mann [[Hillebrand,_Peter_(1907_-_1985)|Peter Hillebrand]]) hatte sich als Schuljunge ein Bein gebrochen. Gehgips und Krücken gab es noch nicht. So mußte er viele Wochen liegen. Sein Bett wurde in die Küche gebracht, wo es warm war und seine Mutter sich meistens aufhielt. Eines Tages legte sie nach dem Tischdecken etwas Rundes auf jeden Teller. Ihr Jüppken reckte den Hals: "Kriegt jeder heute ein Ei?" "Nein, eine Kartoffel". Der Begriff "Steckrübenwinter" entstand. Da gab es Tag für Tag nur Steckrüben ohne Fleisch und Kartoffeln. Sogar der Kaffee morgens wurde aus zu Mus gestampften Steckrüben gemacht. Wer das mitgemacht hat, wird nicht am heutigen Essen rumnörgeln wie die Schülerinnen in Gabrielens Wohnheim in Freiburg. Erbsensuppe mit Schwammklößen wäre ein Festmahl gewesen.
 
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Euer Urgroßvater [[Konrad Hillebrand]] war völlig abgemagert und hatte eine Furunkulose. Furunkel, das sind entzündete Knoten in der Haut, die Eiter enthalten und vom Arzt aufgeschnitten werden müssen (ohne Anaesthesie). Der Arzt sah in der Unterernährung die Ursache und schrieb ein Rezept über Schinken, Wurst und Eier. Damit sollte sein Patient nicht zur Apotheke gehen, sondern zu dem Bauernhof in Alfen, in dem er geboren war. Seine Frau fuhr nach Alfen, kriegte aber nur so viel, wie sie in einer Hand schleppen konnte, damit die Nachbarn nicht dachten, sie hamstere. (Das Wort hamstern kennst Du von den Russen, die vom Hunger bedroht kaufen oder tauschen Lebensmittel, so viel sie kriegen können.) Deine Urgroßmutter, Rix Mariechen, fuhr auch nach Giesenkirchen, wo ihr Vater Rix eine Schlachterei hatte. Auf dem Rückweg durfte sie nicht mit der Bahn fahren, weil dort kontrolliert wurde, ob jemand Lebensmittel bei sich hatte. Sie mußte mit Elektrischen fahren, viele Male umsteigen und oft zu Fuß zur nächsten Station gehen, wo wieder eine Elektrische Straßenbahn abfuhr. Zu Hause versteckte sie die Hamsterware in einer Bodenkammer, die eine so winzige Öffnung hatte, daß nur ein Kind hineinkriechen konnte. Konrad Hillebrand war zu alt, um noch in den Krieg zu müssen und blieb Rektor der Volksschule in Duisburg.
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Euer Urgroßvater [[Hillebrand,_Konrad_(1867_-_1941)|Konrad Hillebrand]] war völlig abgemagert und hatte eine Furunkulose. Furunkel, das sind entzündete Knoten in der Haut, die Eiter enthalten und vom Arzt aufgeschnitten werden müssen (ohne Anaesthesie). Der Arzt sah in der Unterernährung die Ursache und schrieb ein Rezept über Schinken, Wurst und Eier. Damit sollte sein Patient nicht zur Apotheke gehen, sondern zu dem Bauernhof in Alfen, in dem er geboren war. Seine Frau fuhr nach Alfen, kriegte aber nur so viel, wie sie in einer Hand schleppen konnte, damit die Nachbarn nicht dachten, sie hamstere. (Das Wort hamstern kennst Du von den Russen, die vom Hunger bedroht kaufen oder tauschen Lebensmittel, so viel sie kriegen können.) Deine Urgroßmutter, Rix Mariechen, fuhr auch nach Giesenkirchen, wo ihr Vater Rix eine Schlachterei hatte. Auf dem Rückweg durfte sie nicht mit der Bahn fahren, weil dort kontrolliert wurde, ob jemand Lebensmittel bei sich hatte. Sie mußte mit Elektrischen fahren, viele Male umsteigen und oft zu Fuß zur nächsten Station gehen, wo wieder eine Elektrische Straßenbahn abfuhr. Zu Hause versteckte sie die Hamsterware in einer Bodenkammer, die eine so winzige Öffnung hatte, daß nur ein Kind hineinkriechen konnte. Konrad Hillebrand war zu alt, um noch in den Krieg zu müssen und blieb Rektor der Volksschule in Duisburg.
 
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Deutschland konnte die riesigen Summen nicht aufbringen, die der Friedensvertrag 1918 ihm auferlegt hatte. Da besetzten die Franzosen 1923 auf das rechte Rheinufer. Die Deutschen mußten von der Straße auf die Mittelstraße gehen, wenn sie einem Franzosen begegneten. Witzig wie die Rheinländer waren, zogen sie die Mützen, machten eine tiefe Verbeugung und lachten: "tief genug?" Die Bergmänner leisteten passiven Widerstand. Sie fuhren ins Bergwerk ein, förderten aber keine Kohle. Die Franzosen wagten nicht, sie unter Tage mit Waffengewalt zur Arbeit zu zwingen. Dein Großvater war 1923 16 Jahre alt und war unter Tage bei den streikenden Männern. Er gehörte zu ihnen. Schon lange arbeitete er vor der Kohle in den Schulferien, um seinen Lebensstandard aufzubessern. Ein Rektor einer Volksschule verdiente so wenig, daß er seinen drei Kindern und sich selbst nur einen bescheidenen Lebensstandard finanzieren konnte, die Arbeit im Bergwerk wurde gut bezahlt, besser als bei Kolkmann [ein Kaufhaus in Scheeßel], war aber auch anstrengend und damals wegen der "schlagenden Wetter" gefährlich. Er hat auch als Student in den Semesterferien unter Tage Geld verdient, um damit während des Studiums seinen Unterhalt - Miete und Essen - zu finanzieren. Bafög gab es nicht; für die Kinder, deren Eltern ein Studium nicht finanzieren konnten, gab es nur Erlaß von Studiengebühren und Kolleggeldern und das auch nur, wenn der Student nach jedem Semester eine Fleißprüfung ablegte. Das nebenbei. Es gehört nicht zu meinem Thema. Heute kommen die Putzfrauen schon mit dem Auto.
 
Deutschland konnte die riesigen Summen nicht aufbringen, die der Friedensvertrag 1918 ihm auferlegt hatte. Da besetzten die Franzosen 1923 auf das rechte Rheinufer. Die Deutschen mußten von der Straße auf die Mittelstraße gehen, wenn sie einem Franzosen begegneten. Witzig wie die Rheinländer waren, zogen sie die Mützen, machten eine tiefe Verbeugung und lachten: "tief genug?" Die Bergmänner leisteten passiven Widerstand. Sie fuhren ins Bergwerk ein, förderten aber keine Kohle. Die Franzosen wagten nicht, sie unter Tage mit Waffengewalt zur Arbeit zu zwingen. Dein Großvater war 1923 16 Jahre alt und war unter Tage bei den streikenden Männern. Er gehörte zu ihnen. Schon lange arbeitete er vor der Kohle in den Schulferien, um seinen Lebensstandard aufzubessern. Ein Rektor einer Volksschule verdiente so wenig, daß er seinen drei Kindern und sich selbst nur einen bescheidenen Lebensstandard finanzieren konnte, die Arbeit im Bergwerk wurde gut bezahlt, besser als bei Kolkmann [ein Kaufhaus in Scheeßel], war aber auch anstrengend und damals wegen der "schlagenden Wetter" gefährlich. Er hat auch als Student in den Semesterferien unter Tage Geld verdient, um damit während des Studiums seinen Unterhalt - Miete und Essen - zu finanzieren. Bafög gab es nicht; für die Kinder, deren Eltern ein Studium nicht finanzieren konnten, gab es nur Erlaß von Studiengebühren und Kolleggeldern und das auch nur, wenn der Student nach jedem Semester eine Fleißprüfung ablegte. Das nebenbei. Es gehört nicht zu meinem Thema. Heute kommen die Putzfrauen schon mit dem Auto.
 
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Ich bin am Ende. Die Buchbesprechung über Kaiser Wilhelm zitiert sehr viel aus anderen Biographien. Interessant ist für Dich eigentlich nur der Schluß: W zwo in Holland, sein luxuriöses Leben dort und seine Verbindung zu den Nazis. Auch von Adenauer im Wesentlichen der Schluß, das Eingliedern der Bundesrepublik in die Nato und sein Handeln, um eine Wiedervereinigung auf friedlichem Wege zu erreichen.
 
Ich bin am Ende. Die Buchbesprechung über Kaiser Wilhelm zitiert sehr viel aus anderen Biographien. Interessant ist für Dich eigentlich nur der Schluß: W zwo in Holland, sein luxuriöses Leben dort und seine Verbindung zu den Nazis. Auch von Adenauer im Wesentlichen der Schluß, das Eingliedern der Bundesrepublik in die Nato und sein Handeln, um eine Wiedervereinigung auf friedlichem Wege zu erreichen.

Version vom 19. Januar 2017, 21:03 Uhr

Elisabeth Hillebrand
Über Kaiser Wilhelm II, den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit


Vorbemerkung: Diese Erinnerungen zeichnete Elisabeth Hillebrand im Januar 1992 auf, angeregt durch Buchbesprechungen zu Kaiser Wilhelm II und adressiert an ihren Enkel. Inhaltlich überschneidet sich der Text teilweise mit den Erinnerungen an ihre Jugendjahre.
Bei der Abschrift wurden nur minimale Korrekturen vorgenommen und der besseren Lesbarkeit halber Absätze eingefügt.
Ich habe den ersten Weltkrieg und die Revolution danach als Schulkind in Verden erlebt. 1915-1918 hatte ich noch keinen Geschichtsunterricht, aber wir wurden überall beeinflußt in dem Sinne, daß Kaiser Wilhelm II. ein guter, fähiger Regent war und die Monarchie die beste Regierungsform. Der Krieg wurde als notwendige Folge unseres Bündnisses mit Oesterreich angesehen, das Serbien den Krieg erklärte, als ein Serbe den oesterreichischen Kronprinz in Serajewo ermordet hatte. Lieder, die wir sangen, sagen mehr als alle Worte: "Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin, und wär es nicht so weit dahin, so ging ich heut noch hin." oder: "Fest steht und treu die Wacht am Rhein" (sie zerbrach kläglich). Der Krieg begann mit Siegen. Wir kriegten schulfrei und standen um die hohe Stange mit der schwarz weiß roten Fahne und sangen: "Heil dir im Siegerkranz, Retter des Vaterlands, heil Kaiser dir" und jubelten Hurra. Mir aber blieb der Jubel und Hurra im Halse stecken, denn ich glaubte meinem Vater mehr als den Lehrern.
Als Vater in Uniform aus der Gartentür ging, stand Mutter mit uns drei Schwestern an einem großen Fenster im ersten Stock, das die Form eines Halbkreises hatte, und winkten. Mutter erwartete Rudolf, der am 9. Dezember geboren wurde. Ich fragte Mutter später, Vater hätte ein so komisches Gesicht gehabt. Mutter antwortete, Vater wäre tief traurig und erschüttert über den Ausbruch des Krieges und hielt es für unmöglich, daß wir ihn gewönnen. Ich war tief erschrocken, und dann holte Mutter einen Atlas und zeigte mir, wo Frankreich, England und Rußland lagen und Deutschland mittendrin, und sie erklärte mir, was ein Zweifrontenkrieg ist. Ich war fünf Jahre alt und ahnte Furchtbares für uns, was denn 1918 auch passierte. Kein Jubel und Hurrageschrei konnte mich Vaters Gesicht vergessen lassen - bis heute! Mutter hat mir 1919 einen weiteren Schrecken eingejagt. Sie füllte alle Behälter im Hause mit Wasser, sogar den großen Waschkessel, in dem jeweils am Montag unsere Wäsche gekocht wurde, und sagte auf mein erstauntes Fragen, die Kommunisten planten einen Generalstreik, und dann flösse aus keinem Hahn mehr Wasser, aber das könnten sie nur wenige Tage machen, sie könnten nicht Menschen und Tiere verdursten lassen. Von daher stammt meine Furcht vor dem Kommunismus, auch bis heute. Es ist nicht so weit gekommen. Ebert (SPD) wurde der erste Reichskanzler, nachdem der Kaiser nach Holland ausgewiesen wurde. So viel ich weiß, stammte er aus Arbeiterkreisen, hatte jedenfalls keinerlei akademische Ausbildung, aber politische Führungsqualitäten. Vater hatte große Hochachtung für ihn, wie er die Kommunisten zur Ordnung gerufen und die SPD in Führung gebracht hat.
Als ich älter war und ein großes Interesse für Geschichte hatte, hat Vater mich unterrichtet, wie er Kaiser Wilhelm beurteilte, den er verächtlich nur W zwo nannte, und die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges sah. Er unterschied die Ursachen von dem letzten Anlaß zum Krieg, der gewiß in dem Mord von Serajewo lag. Aber die Ursache lag in W zwos falscher Politik. Er provozierte England, indem er seine Handels- und Kriegsflotte vergrößerte und Englands Vormachtstellung auf den Meeren bedrohte. In diesen Tagen Januar 1992 habe ich im Fernsehen singen hören: "Britannia rules the waves". Und warum? England hinderte uns ja nicht in Übersee Handel zu treiben, so weit wir dort Absatz für unsere Waren fanden. Bismarck hatte mit Rußland einen Reichsversicherungspakt geschlossen, der immer nach einigen Jahren neu abgeschlossen werden mußte. Das war wohl eine Art Neutralitätsversprechen, falls eines der beiden Länder in einen Krieg verwickelt wurde. W zwo hat ihn nicht neu abgeschlossen. Frankreich war ohnehin von Rachegefühlen erfüllt, weil wir ihnen Elsaß-Lothringen 1871 weggenommen hatten. Außerdem war es eine Beleidigung für Frankreich, daß wir das Kaiserreich 1871 in Versailles ausgerufen haben, nachdem wir die Franzosen besiegt hatten. Berlin wäre der richtige Ort dafür gewesen. So schlossen sich die drei Länder zur Entente zusammen, die Deutschland vernichten wollten.
Bei der Gelegenheit möchte ich erwähnen, daß Bismarck alles versucht hat, Elsaß-Lothringen bei Frankreich zu lassen. (Das wußte Vater von seinen Lehrern und dem Dozenten für Jura und Geschichte in Göttingen. Vater war 1880 geboren.) Er konnte sich gegen das Militär und die nationalen Mächte in Politik und Wirtschaft nicht durchsetzen. Er sagte, daß diese Entscheidung den Keim zum nächsten Krieg in sich trüge. Wie richtig!! Genau so hat es der grausam harte Friede nach 1918 das deutsche Volk in ein solches Elend gebracht, daß dadurch die Machtergreifung Hitlers und der zweite Weltkrieg letztlich erklärt werden kann.
Und noch eines! Bayern wollte sich dem Kaiserreich 1871 nicht anschließen. Bismarck hat Bayern massiv bestochen, und zwar mit dem Welfenschatz, den er 1866 mit dem Krieg mit dem Königreich Hannover erbeutet hatte. Der Bayernkönig Ludwig hat damit seine schönen Schlösser erbaut.
Ob Preußen einen Anlaß hatte, Hannover anzugreifen, weiß ich nicht, die Ursache war simpel: Mehr Land, mehr Macht. Die Schlacht bei Langensalza (ich hoffe, ich irre mich nicht) mußte Hannover verlieren. Heute gibt es kein Preußen mehr, aber das Land Niedersachsen als Nachfolger des Königreichs Hannover. Dein Urgroßvater Eberhard Hagemann war Hannoveraner und auf Preußen schlecht zu sprechen. Und er war Jurist wie seine Vorfahren.
Aber zurück zu W zwo. Er war ohne jedes Verständnis für Demokratie. Er fühlte sich als Kaiser von Gottes Gnaden, legte großen Wert darauf, in der Öffentlichkeit Ansehen und Beliebtheit zu genießen. Mein Vater wußte, daß er einen verkrüppelten zu kurzen Arm hatte, was ihm Minderwertigkeitsgefühle bereitete. Seine Großmannssucht suchte einen Ausgleich dafür. Mein Vater warf ihm "Säbelrasseln" vor und meinte damit wohl, daß er groß angab, ohne daß Taten folgten. Seine nahen Beziehungen zur Großindustrie waren bekannt, besonders zu Krupp. Die Industrie, die Waffen aller Art herstellte, genoß seine besondere Gunst. Er hat wohl auf den Krieg hingearbeitet und hoffte auf mehr Macht in Europa durch Eroberungen. Die Weltherrschaft zu erringen, mag sein Wunsch gewesen sein, war aber eine Illusion, die nie zur Realität werden konnte. Daß er antisemitisch gesonnen war, ist sicher, ebenso seine Sympathie für Mussolini und Hitler. General Ludendorff hat eine antisemitische Bewegung ausgelöst und unterstützt. Im Krieg war er an militärischen Entscheidungen in keiner Weise beteiligt. Hindenburg genoß hingegen das größte Ansehen.
Und wie wirkte sich der Krieg auf uns persönlich aus?
Deutschland war nicht Kriegsschauplatz. Es gab noch keine Flugzeuge, die Bomben abwarfen. Uns Hagemanns in Verden ging es relativ gut. Mutter schaffte sich Hühner und Schweine an, von denen wir nichts abzugeben brauchten genau so wie es auch bei den Bauern war. Felix Kleins Tochter hat man nicht an der Wiege gesungen, daß sie einmal Hühner schlachten würde. Aber sie brachte den Mut auf. Sie ließ auch Hühner brüten und zog Küken groß. Wir hatten Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume im eigenen Garten und Gemüse.
Ganz anders war es in Duisburg. Euer Papa (gemeint ist Großvater, ihr Mann Peter Hillebrand) hatte sich als Schuljunge ein Bein gebrochen. Gehgips und Krücken gab es noch nicht. So mußte er viele Wochen liegen. Sein Bett wurde in die Küche gebracht, wo es warm war und seine Mutter sich meistens aufhielt. Eines Tages legte sie nach dem Tischdecken etwas Rundes auf jeden Teller. Ihr Jüppken reckte den Hals: "Kriegt jeder heute ein Ei?" "Nein, eine Kartoffel". Der Begriff "Steckrübenwinter" entstand. Da gab es Tag für Tag nur Steckrüben ohne Fleisch und Kartoffeln. Sogar der Kaffee morgens wurde aus zu Mus gestampften Steckrüben gemacht. Wer das mitgemacht hat, wird nicht am heutigen Essen rumnörgeln wie die Schülerinnen in Gabrielens Wohnheim in Freiburg. Erbsensuppe mit Schwammklößen wäre ein Festmahl gewesen.
Euer Urgroßvater Konrad Hillebrand war völlig abgemagert und hatte eine Furunkulose. Furunkel, das sind entzündete Knoten in der Haut, die Eiter enthalten und vom Arzt aufgeschnitten werden müssen (ohne Anaesthesie). Der Arzt sah in der Unterernährung die Ursache und schrieb ein Rezept über Schinken, Wurst und Eier. Damit sollte sein Patient nicht zur Apotheke gehen, sondern zu dem Bauernhof in Alfen, in dem er geboren war. Seine Frau fuhr nach Alfen, kriegte aber nur so viel, wie sie in einer Hand schleppen konnte, damit die Nachbarn nicht dachten, sie hamstere. (Das Wort hamstern kennst Du von den Russen, die vom Hunger bedroht kaufen oder tauschen Lebensmittel, so viel sie kriegen können.) Deine Urgroßmutter, Rix Mariechen, fuhr auch nach Giesenkirchen, wo ihr Vater Rix eine Schlachterei hatte. Auf dem Rückweg durfte sie nicht mit der Bahn fahren, weil dort kontrolliert wurde, ob jemand Lebensmittel bei sich hatte. Sie mußte mit Elektrischen fahren, viele Male umsteigen und oft zu Fuß zur nächsten Station gehen, wo wieder eine Elektrische Straßenbahn abfuhr. Zu Hause versteckte sie die Hamsterware in einer Bodenkammer, die eine so winzige Öffnung hatte, daß nur ein Kind hineinkriechen konnte. Konrad Hillebrand war zu alt, um noch in den Krieg zu müssen und blieb Rektor der Volksschule in Duisburg.
Deutschland konnte die riesigen Summen nicht aufbringen, die der Friedensvertrag 1918 ihm auferlegt hatte. Da besetzten die Franzosen 1923 auf das rechte Rheinufer. Die Deutschen mußten von der Straße auf die Mittelstraße gehen, wenn sie einem Franzosen begegneten. Witzig wie die Rheinländer waren, zogen sie die Mützen, machten eine tiefe Verbeugung und lachten: "tief genug?" Die Bergmänner leisteten passiven Widerstand. Sie fuhren ins Bergwerk ein, förderten aber keine Kohle. Die Franzosen wagten nicht, sie unter Tage mit Waffengewalt zur Arbeit zu zwingen. Dein Großvater war 1923 16 Jahre alt und war unter Tage bei den streikenden Männern. Er gehörte zu ihnen. Schon lange arbeitete er vor der Kohle in den Schulferien, um seinen Lebensstandard aufzubessern. Ein Rektor einer Volksschule verdiente so wenig, daß er seinen drei Kindern und sich selbst nur einen bescheidenen Lebensstandard finanzieren konnte, die Arbeit im Bergwerk wurde gut bezahlt, besser als bei Kolkmann [ein Kaufhaus in Scheeßel], war aber auch anstrengend und damals wegen der "schlagenden Wetter" gefährlich. Er hat auch als Student in den Semesterferien unter Tage Geld verdient, um damit während des Studiums seinen Unterhalt - Miete und Essen - zu finanzieren. Bafög gab es nicht; für die Kinder, deren Eltern ein Studium nicht finanzieren konnten, gab es nur Erlaß von Studiengebühren und Kolleggeldern und das auch nur, wenn der Student nach jedem Semester eine Fleißprüfung ablegte. Das nebenbei. Es gehört nicht zu meinem Thema. Heute kommen die Putzfrauen schon mit dem Auto.
Ich bin am Ende. Die Buchbesprechung über Kaiser Wilhelm zitiert sehr viel aus anderen Biographien. Interessant ist für Dich eigentlich nur der Schluß: W zwo in Holland, sein luxuriöses Leben dort und seine Verbindung zu den Nazis. Auch von Adenauer im Wesentlichen der Schluß, das Eingliedern der Bundesrepublik in die Nato und sein Handeln, um eine Wiedervereinigung auf friedlichem Wege zu erreichen.